1938 wurde die bedeutende Bibliothek des Rabbinerseminars in Breslau weitgehend zerstört. Der nach Kriegsende entdeckte Restbestand, die sogenannten «Breslauer Schriften», kam 1950 in die Schweiz. Die Restauration der wertvollen Bücher wurde nun durch SIG und ICZ initiiert.

Im Rahmen der Novemberpogrome 1938 wurde das bedeutende Rabbinerseminar von Breslau mitsamt seiner Bibliothek weitgehend zerstört. Ein Teil der wertvollen Sammlung wurde zuvor von den Nationalsozialisten geplündert, um den «Untergang der jüdischen Rasse» zu dokumentieren. Nach Kriegsende entdeckten die Alliierten einen Restbestand der Bibliothek, die sogenannten «Breslauer Schriften», in einem Depot in Wiesbaden. 1950 kam ein Bestand von rund 6'000 dieser Bücher in die Schweiz und wurde dem SIG übergeben. Dieser soll nun mit Hilfe der Stadt und des Kantons Zürich restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.

Gründung und Zweck des Rabbinerseminars in Breslau

Das jüdisch-theologische Seminar in Breslau, dem heutigen polnischen Wrocław, ging 1854 aus der von Jonas Fraenckel (1773-1846) gegründeten Fraenckelschen Stiftung hervor und diente als Lehrstätte zur Heranbildung von Rabbinern und Religionsgelehrten. In der dem Seminar angeschlossenen Bibliothek fanden sich neben Thora- und Talmud-Literatur auch Werke der klassischen Literatur, Philosophie, Philologie, Astronomie, Mathematik und christliche Schriften in Hebräisch und Deutsch. Das Seminar entfaltete eine rege Lehrtätigkeit und wurde neben der «Hochschule für die Wissenschaft des Judentums» in Berlin zu einer der wichtigsten Stätten jüdischer Bildung in Europa.

Die teilweise Zerstörung der Bibliothek im Rahmen der Novemberpogrome 1938 und ein Verbot der Lehrtätigkeit durch die Nationalsozialisten zwangen das Breslauer Rabbinerseminar zur endgültigen Schliessung. Die Bibliothek umfasste damals zwischen 30'000 und 40'000 Bücher, die bis auf einen Bestand von etwa 11'000 Bänden zerstört wurden.

Systematische Zerstörung und nationalsozialistische Pseudowissenschaft

Im Mai 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurden ganze Bibliotheken sowie öffentliche und private Büchersammlungen vor allem jüdischer Provenienz in einer gross inszenierten Aktion verbrannt. Das erklärte Ziel der Bücherverbrennung war die völlige Auslöschung des kollektiven jüdischen Gedächtnisses und Erinnerns.

Im Widerspruch dazu trieben die Nationalsozialisten unter der Leitung des NS-Ideologen Alfred Rosenberg die umfassende Plünderung von jüdischen Büchern und Kulturgütern im gesamten besetzten Einflussgebiet voran. Rosenberg hatte von Adolf Hitler den Auftrag erhalten, mit den geraubten Büchern und Kulturgütern am Chiemsee eine «Hohe Schule» als Eliteuniversität der NSDAP für Forschung, Lehre und Erziehung im Geiste des Nationalsozialismus zu errichten. 1939 wurde eine Aussenstelle in Frankfurt am Main errichtet. Die hier gelagerten Sammlungen, darunter die Reste der Breslauer Bibliothek, waren für die nationalsozialistische pseudowissenschaftliche Forschung von grösster Bedeutung.

Bestandesaufnahme der zerstörten und geplünderten Kulturgüter nach Kriegsende

1945 fanden die vorrückenden alliierten Truppen in Deutschland umfassende Bestände an jüdischem Kulturgut. Dies führte 1946 zur Gründung der «Jewish Cultural Reconstruction, Inc.» JCR mit Sitz in New York. Die Organisation war bestrebt, die geraubten Bücher und Gegenstände ihren rechtmässigen Besitzern zurückzugeben.

1949 lagerten im Depot der JCR im Landesmuseum Wiesbaden rund 11'000 der ursprünglichen 30'000 Bände der Breslauer Seminarbibliothek. Geschäftsführerin beim JRC war von 1949 bis 1952 die jüdische Philosophin Hannah Arendt. Arendts Aufgabe war unter anderem die systematische Erfassung und Verteilung der geraubten Güter.

Schon bald wurde die Schweiz als passender Ort für den Verbleib der Breslauer Bibliothek gehandelt, weil hier als einzigem Ort in Europa das deutschsprachige Judentum überlebt hatte. Dabei ging es auch um die Frage, an welchem Ort die jüdische Kultur wiederaufgebaut werden sollte. Ende der 1940er Jahre kontaktierte Arendt die Verantwortlichen des SIG. In Zürich war man äusserst interessiert an den «Breslauer Schriften». 1950 kamen rund 6'000 Bände in die Schweiz und wurden dem SIG übergeben, weitere 5'000 Bücher gingen nach Israel und in die USA.

Die «Breslauer Schriften» als Beweis einer einst blühenden jüdischen Kultur

Bei den «Breslauer Schriften» handelt es sich nicht nur um einen bedeutenden kulturellen Nachlass, sie stehen auch für die versuchte Zerstörung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten. Das macht die Reste der einst bedeutenden Bibliothek ebenfalls zu «Überlebenden» der Schoah. Sie sind ein lebendiger Beweis für die blühende hebräische Kultur, die vor dem Zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum existierte, wie auch ein Zeugnis der deutsch-jüdischen Assimilation. Das macht die Breslauer Sammlung vor allem als Einheit wertvoll.

Die ältesten Bände des Schweizer Bestandes stammen aus dem 16. Jahrhundert. Viele Bücher enthalten handschriftliches Material, Notizen, Ergänzungen und Widmungen. Manche sind so selten, dass sie in keiner anderen Bibliothek gefunden werden können, sind also die einzigen noch existierenden Exemplare weltweit.

Da man sich ursprünglich nicht auf einen Standort für die Bibliothek einigen konnte, wurde diese auf die drei jüdischen Gemeinden in Zürich, Basel und Genf aufgeteilt. Seit 2017 sind alle Bücher in der Bibliothek der ICZ. Die Zusammenführung ermöglicht eine fachgerechte Lagerung wie auch eine umfassende Katalogisierung.

SIG initiiert Restaurationsprojekt in Zusammenarbeit mit Stadt und Kanton Zürich

Aus der Geschichte und Bedeutung der «Breslauer Schriften» ergibt sich eine Verantwortung für den SIG, die ICZ und die Gesellschaft. Ein Grossteil der Bücher hat einen umfangreichen Restaurationsbedarf. Da der SIG und die ICZ das aufwändige Restaurationsprojekt nicht selber stemmen können, wurde im Juni 2022 bei der Direktion Justiz und des Innern des Kantons Zürich und der Stadtpräsidentin von Zürich eine Absichtserklärung eingereicht. Darin haben beide Organisationen den Willen bekundet, den Bestand in der Bibliothek der ICZ zu erhalten, zu betreuen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Ein im Sommer 2023 initiiertes Vorprojekt klärt die Finanzierung und die dafür notwendigen Voraussetzungen für die Restauration. Zentraler Bestandteil des Vorprojekts ist ein Gutachten, das den Status der «Breslauer Schriften» aus rechtlicher, historischer und politischer Sicht untersuchen soll. Dabei geht es um die komplexe Frage der Provenienz wie auch die Umstände der Übergabe des Bestandes an den SIG im Jahre 1950. Das Ergebnis der Vorstudie soll 2024 vorliegen.

Bilder: SIG

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