Der Gemeindebund repräsentierte in der Schweiz eine Minderheit, die politisch ohne Einfluss war. Wie klein sein Handlungsspielraum war, zeigte sich besonders in den Jahren ab 1933, als die Existenz aggressiver und totalitärer Regimes im benachbarten Ausland düstere Schatten auf ihn warf und sein institutionelles Leben schliesslich vollständig beherrschte. Dies galt für alle seine Aufgaben: die Flüchtlingshilfe, die Auslandshilfe, die Abwehr des Antisemitismus, den Rechtsschutz für jüdische Auslandschweizer und die Öffentlichkeitsarbeit.

Flüchtlingshilfe

Die praktizierte Solidarität mit den Zuflucht suchenden Juden bildete ab der Machtübernahme Hitlers bis zum Kriegsende das dominante Arbeitsfeld des Gemeindebunds und seines Hilfswerks, des Verbands Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (VSIA). Dabei entwickelte sich das Hilfswerk von einem winzigen und losen Verband ehrenamtlicher Helfer und Helferinnen zu einer grossen Organisation, die seit 1943 mehr Schützlinge betreute als das gesamte einheimische Judentum Köpfe zählte. Anfang 1945 betreute der VSJF, wie das Hilfswerk unterdessen hiess, rund 23'000 Personen, von denen er 10'000 auch materiell unterstützte. Zu dieser überragenden Leistung gehörte auch, dass es dem VSIA bis 1939 unter gewaltigen Anstrengungen gelang, trotz der Abschottungspolitik aller Staaten insgesamt 3'800 Flüchtlinge in ein Drittland zu verbringen.

Als das NS-Regime ab Juli 1938 systematisch Juden in grosser Zahl illegal über die Schweizer Grenze abschob, wurden diese von den hiesigen Behörden nur deshalb nicht zurückgewiesen, weil der SIG dagegen intervenierte und für den Unterhalt der Flüchtlinge aufzukommen versprach. Im folgenden August akzeptierte der Gemeindebund die Nötigung der Bundesbehörden, auch weiterhin die alleinige Verantwortung für die Fürsorge und die Weiterbringung der illegal Eingereisten zu tragen, da diese Flüchtlinge sonst zurückgeschickt worden wären. Diese Verpflichtung des SIG rettete Tausenden von Menschen das Leben. Sie trug aber auch entscheidend dazu bei, dass der Gemeindebund Ende 1938 ein behördliches Abstoppen der illegalen Einreisen befürwortete, weil er den Kollaps des eigenen Hilfswerks befürchtete.

Als die Schweizer Behörden im August 1942 die Grenze vor den jüdischen Zuflucht Suchenden hermetisch verschlossen, protestierte der SIG in direkten Gesprächen mit dem eidgenössischen Polizeichef Heinrich Rothmund heftig und forderte - ohne Erfolg - den Einschluss der Juden in den Begriff des asylberechtigten politischen Flüchtlings. Er unterliess dabei aber jede öffentliche Kritik an der amtlichen Politik. Ein weiterer Versuch zur Revision des Flüchtlingsbegriffs im März 1943 scheiterte ebenfalls.

Die finanzielle Verpflichtung in der Flüchtlingshilfe bildete für den Gemeindebund eine schwere Last. Sie machte Summen erforderlich, die sein reguläres Budget um ein Mehrfaches überstiegen und die dem Schweizer Judentum grosse Opfer abverlangten. Auch diese Anstrengung hätte nicht genügt, wenn nicht zusätzlich das amerikanische Hilfswerk Joint Distribution Committee (JDC) mit beträchtlichen Subventionen beigesprungen wäre.

Auslandhilfe

Belastet durch die Flüchtlingshilfe besass der SIG wenig Mittel, um den bedrängten Glaubensgenossen im Ausland beizustehen. Er konzentrierte die Hilfe deshalb vorallem auf Sendungen von Lebensmitteln, Kleidern und Medikamenten über Le Colis Suisse oder das IKRK. Die Hauptlast der Solidarität trugen dabei jüdische Privatleute und die zahlreichen kleinen jüdischen Hilfsvereine, die sich zumeist nach Osteuropa orientierten. Die grösste Aktion betraf allerdings Südfrankreich, nachdem im Oktober 1940 die badischen und saarpfälzischen Juden dorthin deportiert worden waren. Dabei beschränkte sich der SIG auf eine organisatorische und technische Unterstützung.

International Bedeutung bei der Auslandshilfe erhielt der Gemeindebund nicht durch seine eigene Tätigkeit, sondern durch den Umstand, dass sein Präsident Saly Mayer die ehrenamtliche Vertretung des JDC in der Schweiz übernahm und ab 1942 als Drehscheibe für die Hilfe in den besetzten Gebieten fungierte: Die amerikanischen Gelder, die wegen des „Trade with the Enemy Act“ für eine Direkthilfe blockiert waren, kamen auf Konten des SIG, während der SIG im gleichen Umfang eigene Gelder im Ausland einsetzte. Auf diese Weise entwickelte sich Mayer zu einer Schlüsselfigur der Hilfe für das verfolgte europäische Judentum.

Rechtsschutz für jüdische Auslandschweizer

Jüdische Schweizer im Herrschaftsbereich der Nazis waren deren Verfolgungen ausgesetzt, etwa durch die „Arisierungen“. Sie wurden durch die Schweizer Behörden jedoch nur von Fall zu Fall geschützt. Gegen diese defensive Haltung der eigenen Regierung kämpfte der SIG mit juristischen Gutachten - als politisches Leichtgewicht allerdings mit geringem Erfolg. Besonders alarmiert wurde der Gemeindebund 1941 durch die bundesrätliche Haltung bezüglich des Ordre public in Frankreich, weil die Juden ihre eigene verfassungsmässige Gleichheit in Frage gestellt sahen. Mangels Rechtsschutz blieb dem SIG nicht viel anderes übrig als vom Schweizer Aussenministerium die rechtzeitige Heimholung seiner Landsleute zu fordern und deren Integration in der alten Heimat zu unterstützen.

Abwehr des Antisemitismus

Besorgt über die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland und die Erfolge der Fröntler in der Schweiz sah der Gemeindebund in der Abwehr des Antisemitismus und in der Verteidigung der jüdischen Gleichberechtigung zunächst seine vorrangigen Aufgaben. Zu diesem Zweck rief er im Mai 1933 eine „Aktion“ ins Leben, die sich sowohl nach aussen wie nach innen richtete. Unter den externen Aktivitäten galten die Schutzsuche bei Behörden und die Anrufung von Gerichten als die bedeutendsten Strategien. Als wichtig erachtete man auch die Beobachtung von Presse und Veranstaltungen sowie die Kontaktpflege zu möglichen Fürsprechern. Das interne Programm, das als „innere Schädlingsbekämpfung“ bezeichnet wurde, propagierte die Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft, die Distanzierung von den Linken, die Veränderung der Berufsstruktur von einer akademisch-kaufmännischen zu einer handwerklichen, die Schliessung der eigenen Reihen sowie die Verhinderung des so genannten Geschäftsleuteantisemitismus durch Selbstdisziplin. Die „Aktion“ wurde bereits 1934 reduziert und schliesslich 1936 durch die Jüdische Nachrichtenagentur (JUNA) abgelöst.

Problematisch an der „Aktion“ war zum einen, dass man den Antisemitismus als Importprodukt erklärte. Dies ermöglichte zwar dessen Ablehnung als unschweizerisches Phänomen, verhinderte aber zugleich, dasjenige antisemitische Potential aufzuspüren und zu bekämpfen, das in der Schweizer Gesellschaft selbst und insbesondere im Überfremdungsdiskurs und in der geistigen Landesverteidigung als bürgerlich-hoffähige Variante angelegt war. Zum anderen zeigte die „innere Schädlingsbekämpfung“, in welchem Ausmass die Juden die antisemitischen Stereotype selbst verinnerlicht hatten.

Öffentlichkeitsarbeit

In den dreissiger Jahren stand die Öffentlichkeitsarbeit des SIG ganz im Zeichen der Antisemitismusabwehr. Höhepunkt waren die international beachteten Prozesse um die „Protokolle der Weisen von Zion“, die 1935 insofern einen grossen Erfolg brachten als das angerufene Gericht die weltweit verbreiteten Verschwörungsschriften als eine Fälschung disqualifizierte. Generell war von 1933 bis 1945 die öffentliche Präsenz des SIG aber von höchster Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Hauptsächlich aus Rücksicht auf die Neutralitätspolitik der eigenen Regierung kritisierte er gegenüber der nichtjüdischen Öffentlichkeit die NS-Verfolgung nur zweimal: in einem kurzen Pressecommuniqué im April 1933 und dann erst wieder im Juli 1944, anlässlich der Deportationen aus Ungarn nach Auschwitz. Zur Flüchtlingspolitik der eigenen Behörden äusserte er sich nie.

Der Gemeindebund verfügte mit der 1936 ins Leben gerufenen JUNA über ein geeignetes Instrument zur Pressearbeit, insbesondere nachdem Ende 1938 Benjamin Sagalowitz die Leitung des kleinen Büros übernommen hatte. Der Journalist musste sich jedoch wegen der defensiven Öffentlichkeitsstrategie des SIG hauptsächlich auf die Auswertung anderer Publikationen und das Erstellen von Bulletins beschränken, in denen er zwar mit geschickt zitierten Artikeln die Zensur unterlief, aber nie eine eigene Position darstellen konnte. Diese Situation führte bereits im Mai 1941 zum Konflikt, als Sagalowitz der SIG-Führung die fehlende Kooperation mit der JUNA, ihre Beschränkung auf eine vertrauliche Zusammenarbeit mit den Behörden und das permanente öffentliche Schweigen vorwarf. Im folgenden Jahr erwies sich das Schweigen des SIG zur amtlichen Rückweisungspolitik schliesslich als eine der Hauptursachen für die Krise, die zu Saly Mayers Rücktritt als Präsident führte. Dies bewegte seinen Nachfolger Saly Braunschweig jedoch nicht dazu, die Strategie des Niedrigprofils aufzugeben.

Autor

Stefan Mächler, 2010

Literatur

Mächler, Stefan: Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1933-1945. Chronos, Zürich 2005. Picard, Jacques: Die Schweiz und die Juden 1933-1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik. Chronos, Zürich 1994.

Rechtlicher Hinweis: Dieses Factsheet darf gesamthaft oder auszugsweise mit dem Hinweis «SIG Factsheet» zitiert werden

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