Als jüdische Emanzipation bezeichnet man den Prozess der politisch-rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung mit der Gesamtgesellschaft. Er galt in Westfrankreich mit der Französischen Revolution, in den übrigen europäischen Staaten im Laufe des 19. Jh. durch einschlägige Gesetzesänderungen als abgeschlossen.

Der aus dem römischen Recht stammende Begriff emancipatio (die Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Herrschaft) wurde 1817 zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Befreiung der Juden von der politischen und rechtlichen Unmündigkeit benutzt. Ab den 30er Jahren des 19. Jh. wurde er zum geläufigen Begriff, was darauf hinweist, dass der Prozess der rechtlichen Gleichstellung in einer breiteren Bevölkerung rezipiert wurde.

Der Emanzipationsprozess verlief in den einzelnen europäischen Staaten und Ländern sehr unterschiedlich: In Frankreich (ausgenommen Elsass und Lothringen) wurde die Gleichstellung der Juden per Revolutionsgesetzgebung 1791 verordnet (ähnlich in den USA mit dem Verkünden der Bill of Rights 1766). In den deutschen Staaten und in Österreich gingen der eigentlichen Rechtsgleichheit langwierige aufgeklärt-erzieherische Massnahmen voran. Die vom Preussen Wilhelm Dohm (Geheimer Kriegsrat im preussischen Aussenministerium) 1781 verfasste Schrift ‚Über die bürgerliche Verbesserung der Juden‘, welche zwar die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit verlangte, aber erst nachdem diese zu „unschädlichen“ Mitglieder der Gesellschaft erzogen worden waren, ist bezeichnend für die Emanzipations- politik.

Auch der österreichische Kaiser Joseph II war davon überzeugt, die Juden erst zu „nützlichen“ Mitgliedern der Gesellschaft erziehen zu müssen, bevor ihnen die Bürgerrechte verliehen werden konnten (Toleranzpatent, 1782). Zahlreiche Verordnungen sollten die Assimilation der jüdischen Bevölkerung forcieren, wie z. Bsp. der Besuch von deutschsprachigen Schulen. Es sollte nicht das Judentum in seiner eigenen Tradition emanzipiert werden, sondern das Individuum, welches das Judentum bestenfalls noch als Konfession verstehen soll.

Die Napoleonische Besetzung brachte für die Juden in vielen deutschen Teilstaaten die bürgerliche Gleichstellung. Auf dem Wiener Kongress 1814/15 wurden den Juden die Rechte jedoch wieder abgesprochen, und erst in den 1860er Jahren gewährte ein Staat nach dem anderen die Gleichstellung. Mit der Reichsgründung 1871 wurde die Emanzipation Reichsgesetz und gilt als abgeschlossen.

Die Diskussion um Bürgerrechte für Juden im 19. Jahrhundert brachte einen weitreichenden antijüdischen Diskurs hervor. Antijüdische Ressentiments waren nicht länger religiös motiviert, sondern wurden zu Werkzeugen politischer Agitation.

In der Schweiz gelangten erstmals 1798 die Surbtaler Juden mit der Bitte um Gleichberechtigung an die helvetische Regierung, welche das Anliegen ablehnte. Die in der Schweiz wohnhaften Juden waren demnach schlechter als französische Juden gestellt, welche als gleichberechtigte Franzosen die Bürgerrechte besassen. Die Niederlassung in den Städten war nur durch Individualerlaubnisse möglich, dennoch bildeten sich im Laufe des 19. Jh. insbesondere in der französischsprachigen Schweiz neue städtische Gemeinden (z.B. Biel, La Chaux-de-Fonds). Einige kantonale Verfassungen sprechen von einer liberalen Judenpolitik; so hielt beispielsweise der Kanton Neuenburg schon 1858 die Religionsfreiheit fest und bot der jüdischen Gemeinde an, als Staatskirche anerkannt zu werden (was von jüdischer Seite aus Angst vor Einmischung in kultische Belange abgelehnt wurde). Die generellen Debatten über die Judenemanzipation waren auch in der Schweiz beeinflusst von radikalen antijüdischen Ressentiments, welche sich teilweise hinter wirtschaftlichen und/oder konservativ-traditionellen Argumenten zu verstecken suchten. Auf Bestreben einiger kantonaler Politiker und auf Druck aus dem Ausland (USA, NL, F) wurde den Juden durch eine Teilrevision der Bundesverfassung (1866) freie Niederlassung und Gewerbefreiheit zugesprochen, erst die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 gewährte die freie Religionsausübung.

Sowohl in der Schweiz wie auch in Deutschland führte das Bestreben nach politischer und rechtlicher Gleichberechtigung zu Modernisierungsdiskussionen innerhalb der jüdischen Gemeinschaften. Das Teilhaben an der breiten Öffentlichkeit stellt eigene Traditionen, Werte und Selbstverständnisse in Frage. So war der Emanzipationsprozess auf unterschiedlichen Ebenen eine Herausforderung und führte zu weitreichenden Modernisierungsdebatten, welche ihren Ausdruck (nicht nur) in der jüdischen Aufklärung (hebr. haskalah) fanden. In den Städten entwickelte sich eine jüdische Bürgerlichkeit, welche sich durch eine starke Assimilation auszeichnete. Das Aufkommen von antisemitischen Bewegungen gegen Ende des 19. Jh., die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und schlussendlich der europäische Massenmord an den Juden lässt Zweifel aufkommen, inwiefern das Emanzipationsprojekt des 19. Jh. als gelungen zu bewerten ist.

Autorin

Stefanie Mahrer, 2009

Literatur

Schubert, Kurt: Jüdische Geschichte, 6. Aufl. Ausg., München 2007.

Weldler-Steinberg, Augusta, Guggenheim-Grünberg, Florence und Schweizerischer israelitischer Gemeindebund: Geschichte der Juden in der Schweiz vom 16. Jahrhundert bis nach der Emanzipation, Zürich 1966.

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