Erst Jahrzehnte nach seinem Tod wurde der Polizeihauptmann und Judenretter Paul Grüninger von der offiziellen Schweiz rehabilitiert. Auch der SIG hat sich während und nach dem Zweiten Weltkrieg Grüninger gegenüber unrühmlich verhalten.

Paul Grüninger rettete in den Jahren 1938 und 1939 mehrere hundert, vielleicht einige tausend jüdische und andere Flüchtlinge vor der Verfolgung der Nazis. Dies, indem er sie mit falschen Papieren ausstattete und ihnen so eine Einreise in die Schweiz ermöglichte. 1939 wurde der St. Galler Polizeihauptmann Grüninger deswegen vom Dienst suspendiert. Wegen Amtspflichtverletzung musste er eine Geldstrafe bezahlen, er verlor seine Pensionsansprüche, fand keine regelmässige Arbeit mehr und war finanziell ruiniert. Nach Grüningers Tod vergingen Jahrzehnte bis die offizielle Schweiz seine mutigen Taten endlich würdigte und ihn rehabilitierte. Aber nicht nur die Schweizer Politik ging unrühmlich mit Grüninger um. Der SIG selber scheint eine zweifelhafte Rolle im behördlichen, politischen und vor allem auch menschlichen Umgang mit Grüninger gespielt zu haben.

Einerseits steht der Vorwurf im Raum, dass der SIG Paul Grüninger denunziert respektive den damaligen Chef der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, auf Grüningers Aktivitäten aufmerksam gemacht haben könnte. Damit habe der SIG – so der Vorwurf – verhindern wollen, dass noch mehr jüdische Flüchtlinge, für die zum allergrössten Teil die Schweizer Juden finanziell haben aufkommen müssen, in die Schweiz kommen. Andererseits setzte sich der SIG auch nach Kriegsende Jahrzehnte lang nicht für Grüninger ein. Er unterstützte den mittellos gewordenen Grüninger kaum und kümmerte sich auch sonst nicht um ihn.

Der Stand der Forschung

Im November 2014 beauftragte der SIG den Historiker Dr. Stefan Keller mit einer Vorstudie zur Wissens- und Quellenlage bezüglich der Beziehungen zwischen dem SIG und Paul Grüninger1. Die Vorstudie sollte nicht nur einen Überblick über bereits Erforschtes geben, sondern auch klären, ob und allenfalls welche weiteren Recherchen sinnvoll wären. Keller kam in der Studie zum Schluss, dass der Forschungsstand zu Grüninger genügend abgedeckt ist, auch die Beziehungen zwischen Grüninger und dem SIG. Ein Problem besteht jedoch laut Keller darin, dass der SIG die bereits existierende Forschung kaum wahrgenommen und anerkannt hat.

Es zeigt sich, dass sich die Gerüchte, wonach der SIG 1939 Grüninger beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement denunziert haben soll, nicht eindeutig beweisen lassen – allerdings bleibt die Rolle des SIG diesbezüglich sehr fragwürdig, und eine solche Denunziation ist nicht unwahrscheinlich. Keller sowie der Historiker Stefan Mächler2 weisen jedoch darauf hin, dass Grüningers Aktivitäten auch ohne allfällige Denunziation seitens des SIG den Behörden bekannt geworden wären. Dennoch steht fest: Selbst wenn die Schweizer Juden damals enormem finanziellem und politischem Druck ausgesetzt waren, so wäre eine Denunziation Grüningers durch den SIG nicht zu entschuldigen.

Was die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft, ist die Lage klar: Der SIG hat Grüninger kaum unterstützt, weder finanziell noch sozial. Es gab einzelne, sehr kleine und völlig ungenügende Gesten der Dankbarkeit: So überreichte der SIG Grüninger zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 1969 einen Blumenstrauss und 1000 Franken. Später wollte der SIG ihm eine Reise nach Israel an die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem bezahlen, die Grüninger aus Gesundheits- und Altersgründen nicht mehr antreten konnte. In den 1990er Jahren – mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod – trug ihn der SIG in sein „Goldenes Buch“ ein, mit dem Persönlichkeiten geehrt werden, die sich in aussergewöhnlicher Weise für die Juden eingesetzt haben, und unterstützte die rechtliche Rehabilitierung, wobei hier neben Nationalrat Paul Rechsteiner eher der Verein Jüdischer Fürsorgen VSJF denn der SIG treibende Kraft war. Gesamthaft lässt sich aber klar sagen, dass der SIG sich Grüninger gegenüber zu wenig dankbar gezeigt hat. Der SIG hat es versäumt, ihn für seine mutigen Taten angemessen zu würdigen und ihn nach der Entlassung als Polizeihauptmann finanziell angemessen zu unterstützen, da er nie mehr eine feste Anstellung fand.

Schlussfolgerung

Der SIG bedauert heute die Versäumnisse im Umgang mit Paul Grüninger sehr. Der amtierende SIG-Präsident Herbert Winter entschuldigte sich dafür persönlich und im Namen des SIG bei Paul Grüningers Tochter Ruth Roduner, aber auch öffentlich in den Medien3. Als Geste der Wertschätzung würdigt der SIG über seine Memorial-Stiftung die Verdienste von Paul Grüninger mit einer Rente, die er Ruth Roduner seit Ende 2014 auszahlt. Der SIG wird sich, auch auf Empfehlung von Stefan Keller, weiterhin dafür einsetzen, dass alle jüdischen Organisationen ihre Archive der Öffentlichkeit respektive der zeitgeschichtlichen Forschung zugänglich machen. Denn indem einige jüdische Organisationen ihre Archive lange unter Verschluss gehalten haben, wurde die Aufarbeitung der Geschichte erschwert. Der SIG lanciert selber keine neuen Forschungsvorhaben zur Beziehung des SIG zu Grüninger, da es keine bedeutenden Forschungslücken mehr gibt, wie Keller in seiner Vorstudie darlegt. Forschungsarbeiten zum Thema, die an den SIG herangetragen werden, wird der SIG nach Möglichkeit unterstützen.

1 Keller: Stefan: Die Beziehungen zwischen SIG und Paul Grüninger. Vorstudie zur Wissens- und Quellenlage. Zürich 2015.

2 Mächler, Stefan: Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1939 – 1945. Zürich 2005.

3 Winter, Herbert: Wiederkehrende Debatten. Erschienen im Magazin Tachles am 21. Februar 2014; „Grüningers Erbe“. Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens vom 19. Oktober 2014.

Autor

Patrick Studer, 2016

Literatur

Bickenbach, Wulff: Gerechtigkeit für Paul Grüninger. Verurteilung und Rehabilitierung eines Schweizer Fluchthelfers (1938 – 1998). Köln 2009.

Keller Stefan: Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. 5. Auflage. Zürich 2013.

Keller Stefan: Die Beziehungen zwischen SIG und Paul Grüninger. Vorstudie zur Wissens- und Quellenlage. Unveröffentlichte Studie. Zürich 2015.

Mächler Stefan: Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung. Zürich 2005.

Zweig, Hanna: Saly Mayer 1882 – 1950. Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust. Köln 2007.

Rechtlicher Hinweis: Dieses Factsheet darf gesamthaft oder auszugsweise mit dem Hinweis «SIG Factsheet» zitiert werden

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