Während im 17. und 18 Jahrhundert die jüdische Bevölkerung fast überall in Westeuropa wieder anwuchs und die Juden wegen der neuen merkantilistischen Politik vielerorts erstmals seit den Verfolgungen und Vertreibungen des 14. und 15 Jahrhunderts wieder zugelassen wurden, geschah in der Schweiz nichts Dergleichen. Trotz des Bemühens einzelner Aufklärer griff die Idee der Toleranz hier nicht. Erst die französische Besatzung von 1798 brachte den Wandel. Aber sogar dann wurde Gleichstellung zunächst nur französischen, mehrheitlich elsässischen Juden gewährt, die als französische Bürger mit den Besatzern gekommen waren. Es waren diese Juden, die damals neue Gemeinden in Städten wie Bern, Genf und Basel gründeten, wo den Juden seit dem 15. Jahrhundert die Wohnsitznahme verboten gewesen war.
Helvetik
Unter der französischen Besatzung versuchten schweizerische Reformer die Emanzipation der Schweizer Juden über das neue zentrale Parlament in Aarau durchzusetzen, was aber misslang. Jüdische Emanzipation wurde als durch fremde Besatzer aufgezwungen betrachtet. Die Franzosen hatten mit der Helvetik die Struktur der Schweiz bereits zwangsweise zentralisiert und modernisiert, was nicht auf Gegenliebe stiess und als gegen alte schweizerische Freiheiten gerichtet empfunden wurde. Vor diesem Hintergrund war die Debatte um die Emanzipation der Juden trotz ihrer kleinen Zahl zu einem zentralen Thema in der politischen Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern der französisch inspirierten und dominierten Helvetischen Republik geworden.
„Zwetschgenkrieg“
1802 schliesslich revoltierte die Bevölkerung und wandte sich auch gegen die Juden. Der Mob plünderte die beiden Judendörfer Endingen und Lengnau. Die Franzosen gaben letztlich der Gewalt nach. Napoleon fehlten Truppen, um die Schweiz zu befrieden, und ausserdem benötigte er für seine Feldzüge Schweizer Regimente. 1803 schloss er deshalb mit der Eidgenossenschaft eine politische Vereinbarung und stellte mit der Mediationsakte wesentliche Formen des alten, dezentralisierten Schweizer Systems wieder her. Die Franzosen dominierten ihren schweizerischen Satellitenstaat von nun an indirekt. Die jüdische Gleichstellung fiel dabei aus der Tagesordnung. Einzig französische Juden verfügten als französische Staatsangehörige weiter über mehr oder weniger volle Rechte.
Restauration
Nach Napoleons endgültiger Niederlage und der restaurativen Neuordnung Europas am Wiener Kongress von 1815 versuchten die Schweizer Konservativen, die seit 1798 im Land niedergelassenen französischen Juden wieder zu vertreiben. Obwohl die Zahl der ‚fremden’ Juden zwischen 1815 und 1847 erheblich schrumpfte, harrten viele aus. Die zumeist französischen fremden Juden genossen den diplomatischen Schutz Frankreichs. Auch die USA intervenierten seit den 1840er Jahren in der Schweiz und unternahmen diplomatische Schritte, um jüdisch-amerikanische Bürger zu schützen, die zu Handelszwecken in die Schweiz gekommen und nun als Juden der Diskriminierung ausgesetzt waren.
Bundesstaat
1847 brachte der Sonderbundkrieg zwischen den modernisierenden, liberalen und protestantischen Städten und den katholisch-konservativen Kantonen des ländlichen Landesinneren die liberalen Kräfte an die Macht. Ihre wichtigste Partei, die FDP, begründete 1848 die moderne föderalistische Schweiz und dominierte sie für mehr als ein Jahrhundert. Sie legte damit das Fundament der modernen, städtischen Schweiz im Sinne einer Industrie-, Handels- und Banken-Nation. Trotzdem der Sieg der Modernisierer den Bemühungen um die Vertreibung der Juden endlich ein Ende setzte, brachte er ihnen nicht automatisch die Gleichberechtigung. Für die Juden erwies sich der neue liberale Staat von 1848 als Enttäuschung. In seiner Verfassung gewährte er nur den Christen gleiche Rechte. Für Juden gab es keine Religions-, Handels- oder Niederlassungsfreiheit, obwohl die Regeln gelockert wurden und z.B. die Juden von Endingen und Lengnau sich neu in Baden und Zürich niederlassen konnten. Aufgeschoben wurde die Emanzipation vor allem auch wegen des Widerstands der Bevölkerung. Diese Sensibilität gegenüber dem widerstrebenden Volkswillen widerspiegelte den radikaldemokratischen Charakter des Staates, seinen Aufbau von unten her, von den in vielen Belangen autonomen Gemeinden über die halbsouveränen Kantone hin zu einer schwachen zentralstaatlichen Behörde.
Ausländischer Druck
Den Wechsel brachten erst Interventionen von aussen, als 1866 die USA, Frankreich, Holland und England wirtschaftlichen Druck auf die Schweiz ausübten, den Juden gleiche Rechte zu gewähren. Die Schweiz, die um ihre Handelsbeziehungen fürchtete, gab nach. Trotzdem dauerte es noch Jahre, bis schliesslich im Jahr 1874 die revidierte Verfassung angenommen wurde, welche den Juden gleiche Rechte samt der Religions- und Niederlassungsfreiheit garantierte.
Autor
Simon Erlanger, 2013
Literatur
Rosenfeld, Gabrielle (Hg.) u.a.: Jüdische Lebenswelt Schweiz - 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund, Zürich, 2004 Haumann, Heiko (Hg.): Acht Jahrhunderte Juden in Basel, 200 Jahre Israelitische Gemeinde Basel, Basel, 2005
Weldler-Steinberg, Augusta: Geschichte der Juden in der Schweiz - Band I und II vom 16. Jahrhundert bis nach der Emanzipation, Zürich 1966
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