Mit „Halacha“ wird das umfassende System des Jüdischen Rechts bezeichnet, das die Verhaltensregeln für das Leben eines jüdischen Menschen zu bestimmen wünscht.
Die Basis der Halacha (dt. Religionsgesetz; Pl. „Halachot“; vom hebr. „haloch“- gehen, im Sinne von „Lebensweg“) bilden die Ge- und Verbote der schriftlichen (Thora) und der mündlichen Lehre (Mischna/Talmud). Wie jedes Rechtssystem kann auch die Halacha ohne Auslegungen nicht in der sich stets verändernden Realität angewendet werden. So beschäftigten sich die Gelehrten des Talmuds bis hin zu den rabbinischen Autoritäten der Moderne mit Fragen der Exegese und legten aufgrund ihres Verständnisses halachische Entscheide fest. Diese wurden zu Präzedenzfällen, die im Laufe der Zeit weiterer Interpretationen bedurften, so dass die halachische Literatur bis in unsere Tage durch rabbinische Gelehrte vertieft und ausgebaut wird.
Als grundlegendes halachisches Kompendium gilt der Gesetzeskodex „Schulchan Aruch“ (dt. Gedeckter Tisch) von Rabbi Josef Karo aus Safed (1488-1577), eine Zusammenfassung seines früheren, in seiner Fülle und Spannweite enormen Kommentars „Bejt Joseph“ (dt. Haus Josephs) zum halachischen Werk „Arba Turim“ (dt. Vier Reihen) des Rabbi Jakov ben Ascher (1269-1343, Deutschland/ Spanien). Im „Schulchan Aruch“ übernahm Karo zwei zentrale Elemente des „Arba Turim“: Die Auflistung lediglich jener Halachot, die nach der Zerstörung des Tempels praktische Relevanz besitzen, und die Unterteilung der religionsgesetzlichen Gebiete in vier Hauptkategorien:
- „Orach Chajim“ (dt. Pfad des Lebens): handelt von Segenssprüchen und Gebeten sowie von ritueller Observanz zuhause und in der Synagoge am Wochentag, am Schabbat und an den Feiertagen.
- „Yoreh De’ah“ (dt. Lehrer des Wissens): handelt von verschiedenen rituellen Verboten, im speziellen Speisegesetze und Regelungen bezüglich der Unreinheit während der Menstruation.
- „Even haEser“ (dt. Fels des Helfers): handelt von Familiengesetzen wie Heirat, Scheidung, etc.
- „Choschen Mischpat“ (dt. Brustschild des Rechts): handelt von der Administration und Anwendung des Zivilgesetzes.
Bei der Festlegung seiner verbindlichen halachischen Entscheidungen richtete sich Karo grundsätzlich nach dem Majoritätsprinzip unter den drei grossen religionsgesetzlichen Instanzen vor ihm: Rabbi Jitzchak Alfasi („Rif“, 1013-1103, Nordafrika), Rabbi Mosche ben Maimon („Rambam“, 1138-1204, Spanien/Nordafrika) und Rabbi Ascher ben Jechiel („Rosch“, 1250-1327, Deutschland/Spanien). Nachdem Rabbi Mosche Isserles („Rama“, 1525-1572, Polen) bemerkte, dass der Schulchan Aruch fast vollständig auf sephardischer Tradition basierte, schrieb er eine Reihe von Glossen zum Text des Schulchan Aruch für all jene Fälle, in denen sich die aschkenasischen von den sephardischen Bräuchen unterschieden. Bescheidenerweise nannte Isserles seinen Kommentar „Mappah“ (dt. Tischdecke) zum „Schulchan Aruch“.
Seit der Veröffentlichung des Schulchan Aruchs erschienen viele weitere halachische Schriften und Kommentare. Als bedeutendste Säule der religionsgesetzlichen Literatur der Moderne gelten jedoch die zahlreichen Responsen. Schon in der Zeit der Geonim (Thoragelehrte in der Zeit der talmudischen Akademien in Babylonien, 7.-11.Jh.) waren Responsen sehr populär: Rabbinische Instanzen wurden von einzelnen Personen oder jüdischen Gemeinden um eine Klärung einer talmudischen Diskussion oder um eine Antwort auf eine spezifische halachische Frage gebeten. Die Antworten des Gelehrten wurden dem Absender zurückgesandt. Oft wurden ganze Sammelbände von Responsen verschiedener rabbinischen Autoritäten herausgegeben, und heute existiert gar die Möglichkeit zu „virtuellen Responsen“, bei welchen jüdische Gesetzeskundige dem Fragesteller online halachische Fragen beantworten.
Ungleich säkularer Rechtssysteme ist die Halacha gemäss der jüdischen Orthodoxie ein verbindliches religiöses System, welches die „Mizwot“ (dt. Gebote) mitsamt ihren detaillierten Abzweigungen als Ausdruck des göttlichen Willens versteht. Im progressiven Judentum wird die Halacha als von Menschen kreiertes System verstanden, welches in der heutigen Zeit zahlreicher Revisionen bedarf, die wiederum bei den verschiedenen Strömungen und Gemeinden - in Form wie in Umfang - unterschiedlich zum Ausdruck kommen.
Autor
Emanuel Cohn, 2009
Rechtlicher Hinweis: Dieses Factsheet darf gesamthaft oder auszugsweise mit dem Hinweis «SIG Factsheet» zitiert werden