Die religiösen Verpflichtungen und die Aufgaben der jüdischen Frau konzentrierten sich traditionell auf Heim und Familie. Seit dem 19. Jahrhundert eröffnen sich ihr zunehmend Tätigkeiten in öffentlichen jüdischen Lebensbereichen.
In der rabbinischen Literatur wird eine Gesellschaft beschrieben, in deren Mittelpunkt der freie erwachsene jüdische Mann steht. Entsprechend unterschiedlich definierten die Rabbiner seit dem 2. Jahrhundert die Rechte, Pflichten und Rollen von Mann und Frau. Die religiösen Vorschriften (Mizwot) für die jüdische Frau konzentrieren sich auf die privaten Bereiche Heim und Familie. Das war der Raum, in dem sie als Gattin und Mutter agieren sollte. Ihre Aufgabe war es, ihren Ehemann zu unterstützen, den Haushalt zu führen und sich um die Kinder zu kümmern. Das widerspiegeln drei besonders wichtige religiöse Gebote der Frau: die Reinheitsgesetze in der Ehe (Taharat Hamischpacha), das Verbrennen eines Stücks Teig beim Backen der Brote für Schabbat und Feiertage (Challa) sowie das Anzünden der Kerzen vor Schabbat und Feiertagen (Hadlakat haNer). Gleichzeitig ist die jüdische Frau von wichtigen religiösen Vorschriften entbunden, welche die ausserhäuslichen Bereiche Synagoge und Gemeinde prägen. Religiöse und politische Funktionen wie jene des Rabbiners, des Vorbeters (Chasan) oder des Gemeindepräsidenten (Parnass) waren deshalb bis in die Neuzeit hinein dem jüdischen Mann vorbehalten und sind es in orthodoxen Gemeinden noch heute.
Seit der jüdischen Aufklärung (Haskala) ab dem späten 18. Jahrhundert und der Entstehung des liberalen und konservativen (Masorti; zwischen liberal und orthodox positioniert) Judentums hat sich der Alltag der jüdischen Frau stark gewandelt. Von Bedeutung war unter anderem, dass sie zunehmend Zugang zum Studium der Tora und insbesondere der rabbinischen Literatur (Talmud Tora) erhielt. Nachdem europäische Staaten nach und nach das Schulobligatorium eingeführt hatten und jüdische Frauen in der Folge über eine gute säkulare Allgemeinbildung, aber nur über ein geringes jüdisches Wissen verfügten, setzten sich Rabbiner – unter ihnen der in der orthodoxen Gemeinde von Frankfurt a.M. wirkende Samson Raphael Hirsch (1808–1888) – ab Mitte des 19. Jahrhunderts für eine bessere jüdische Bildung für Mädchen und Frauen ein. Diese beinhaltete neben Tora und Halacha (dt. jüdisches Recht) zunehmend auch rabbinische Literatur. Ziel war es, die jüdische Identität der Mädchen und Frauen zu stärken und sie so vor einer drohenden Assimilation zu bewahren. Ab 1918 entstanden schliesslich die von Sarah Schenirer ins Leben gerufenen «Beit Ja’akow»-Schulen für Mädchen.
Mit dem Zugang zu Talmud Tora eröffneten sich der jüdischen Frau neue Tätigkeitsbereiche. Neben dem Lehrberuf gehören dazu auch Aufgaben im Rabbinat. Das liberale Judentum hat nach jahrzehntelangem Ringen 1972 die erste Rabbinerin ordiniert, die konservative Bewegung folgte 1985. Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts nehmen Frauen auch im orthodoxen Judentum einzelne rabbinische Aufgaben wahr, beispielsweise als halachische Beraterin (Jo’ezet Halacha). 1994 erhielt mit der damals 31-jährigen Mimi Feigelson erstmals eine Frau von einem orthodoxen Rabbiner – Shlomo Carlebach – eine Ordination. Feigelson und zwei weitere Rabbinerinnen mit orthodoxer Ordination übten diese Funktion bisher nicht in orthodoxen Gemeinden aus, doch in der orthodoxen New Yorker Gemeinde «Hebrew Institute of Riverdale» ist seit 2009 die damals 32-jährige Sara Hurwitz als Oberhaupt für Halacha, Spiritualität und Tora (MaHaRa“T; Manhiga hilchatit ruchanit toranit) tätig, und ihr Titel wurde Anfang 2010 in Rabba (dt. weibliche Form für Raw, Rabbiner) umgewandelt. Die 2009 gegründete Yeshivat Maharat in New York bildet als erste Institution orthodoxe Frauen für rabbinische Tätigkeiten in jüdischen Gemeinden aus; im Juni 2013 wurde den ersten drei Absolventinnen der Titel Maharat verliehen. In orthodoxen Gemeinschaften sind Frauen in der Regel nicht in die Leitung und Gestaltung von Gottesdiensten einbezogen; die Rollenverteilung von Mann und Frau erfolgt grundsätzlich nach traditionellem Muster. In liberalen und in den meisten konservativen Gemeinschaften sind Frauen und Männer heute gleichgestellt.
Zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bezüglich der Stellung der jüdischen Frau gehört eine Verbesserung der Rechtslage der Agunot: Dies sind von ihren Ehemännern getrennt lebende Frauen, die keinen Get (dt. Scheidungsurkunde) erhalten, entweder weil die Männer diesen verweigern, oder weil sie verschollen sind. Agunot gelten nach jüdischem Recht als verheiratet und können deshalb keine neue Ehe eingehen.
Autorin
Valérie Rhein, 2013
Weiterführende Literatur
Bebe, Pauline: Isha. Frau und Judentum. Enzyklopädie. Egling an der Paar 2004.
Biale, Rachel: Women and Jewish Law. The Essential Texts, Their History, and Their Relevance for Today. New York 1995.
Thesing, Christina: Feminism kosher. Frauen erobern das amerikanische Judentum. Sulzbach/Taunus 2011.
Wolowelsky, Joel B.: Women, Jewish Law and Modernity. New Opportunities in a Post-Feminist Age. Hoboken 1997.
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