Unsichere Ursprünge
Im Gebiet der heutigen Schweiz ist die Anwesenheit von Juden vor dem Hochmittelalter nicht sicher bezeugt. Ein Siegelring mit dem Abbild der Menora, gefunden in Kaiseraugst und wahrscheinlich ins 4. Jahrhundert zu datieren, erlaubt keine eindeutigen Aussagen über die Präsenz von Juden in der Schweiz zur römischen Kaiserzeit. Auch die Erwähnung der Juden in der Lex Burgundionum, einer Gesetzessammlung aus der Zeit um 500, besagt nichts über allfällige jüdische Niederlassungen auf heutigem Schweizer Boden. Die Möglichkeit, dass in der Bischofsstadt Genf Juden seit dem Frühmittelalter gewohnt haben, ist freilich nicht gänzlich auszuschliessen. Nachweislich leben Juden in Genf seit der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts.
Erste Nachrichten
Sichere Belege für die Anwesenheit von Juden und die Bildung von Gemeinden setzen um 1200 ein. Die Zuwanderung erfolgt vor allem vom Elsass und Mittelrhein her, in kleinerem Ausmass aus Süddeutschland und Oberitalien. 1213 sind Juden in Basel bezeugt - bereits mit einem Gemeindevorsteher. Im Laufe des 13. Jahrhunderts tauchen sie in Zürich, St. Gallen, Bern, Solothurn, Biel, Neuenburg und Luzern sowie in kleineren Städten im Aargau und Bodenseeraum auf. Ausserhalb städtischer Siedlungen sind im 13. Jahrhundert keine jüdischen Niederlassungen feststellbar. In den Städten unterstehen die Juden als „Kammerknechte“ der kaiserlichen Schutzherrschaft und Besteuerung. Doch sind diese Kompetenzen mehrheitlich den Stadt- und Landesherren verliehen oder verpfändet, so dass die Juden de facto der herrschaftlichen oder kommunalen städtischen Obrigkeit unterstehen.
Berufe
Die Juden leben grösstenteils vom „Wucher“, d. h. vom Geldverleih gegen Zins, der gemäss Kirchenrecht den Christen verboten, aber mit dem Aufschwung des Geldverkehrs in den Städten seit dem 12. Jahrhundert zu einem unverzichtbaren Wirtschaftsfaktor geworden ist. Die unbestrittene Tatsache, dass Juden keine zünftigen Berufe ausüben können, kann nicht als Diskriminierung ausgelegt werden (obwohl solche sehr wohl vorgekommen sind). Die Zünfte sind im Mittelalter in erster Linie religiöse Bruderschaften und pflegen den christlichen Heiligen- und Totenkult, doch ist das Recht der Berufsausübung an die Zugehörigkeit zur zuständigen Zunft gebunden. So bleibt den Juden der Zutritt zu zünftigen Berufen aus religiösen Gründen verwehrt. Wo es aber in grösseren Städten wie z. B. Basel zur Bildung von jüdischen Gemeinden kommt, übernehmen diese im städtischen Wirtschaftsleben eine zunftähnliche Funktion. Die Judenschaft ist gewissermassen die „Zunft der Geldverleiher“ und tritt, wenn es um grössere Summen geht, gegen aussen als Korporation auf.
Ausser als Kreditgeber und Pfandleiher wirken Juden vereinzelt auch als Ärzte. Anders als beispielsweise in Strassburg sind die Juden in den Schweizer Städten nicht zum Wehrdienst verpflichtet, zumal ihnen kein Waffenrecht zusteht.
Synagogen
Die Gemeinden dürften nie mehr als etwa hundert Personen, verteilt auf drei Generationen, gezählt haben. Synagogen sind für Basel, Genf, Lausanne, Luzern, Murten, Solothurn, Schaffhausen, Diessenhofen und Zürich bezeugt. Bauliche Reste sind ausser in Zürich bis jetzt nicht bekannt. Ein archäologisch erfasster Judenfriedhof besteht in Basel bis 1349.
Auf Wohlstand lassen die aufwändig gefertigten Basler Grabsteine schliessen. Fresken in Zürich aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit hebräischen Inschriften im Haus der Brüder Rabbi Moses und Mordechai ben Menachem und deren Mutter Minne bilden ein seltenes Zeugnis für eine jüdische Repräsentationskultur. Rabbi Moses ist der Verfasser des Zürcher SEMKs (Sefer Mitzvot Katan), eines bis heute gebräuchlichen rabbinischen Kommentars. Umgekehrt enthalten Skelettreste aus dem ersten Basler Judenfriedhof, die 2002 bei Bauarbeiten unter dem Kollegienhaus der Universität zum Vorschein gekommen sind, Anzeichen eines schlechten Gesundheitszustandes und verschiedener Mangelerkrankungen. (Diese Gebeine sind nach ihrer Untersuchung im heutigen Basler Judenfriedhof ordnungsgemäss beigesetzt worden.)
Keine Ghettos
Verständlicherweise wohnen die Juden möglichst nahe bei der Synagoge, sie sind aber nicht in einem Ghetto eingeschlossen. Die Berner Juden leben in einer eigenen, mit einem Tor abgegrenzten Gasse. In Basel, Zürich und anderen Städten ist es den Juden möglich, Liegenschaften zu erwerben und zu vermieten.
Den Juden werden ausser der kaiserlichen „Judensteuer“ vielfache Abgaben auferlegt, namentlich für die Aufenthaltsbewilligung. Dazu kommen Zoll- und Bestattungsgebühren sowie hohe Bussen für Gesetzesübertretungen wie unerlaubte Tätigkeiten, sexuelle Kontakte mit Christinnen und angebliche Schmähworte gegen die christliche Religion.
Relativ sicher bis ins 14. Jahrhundert. Ihre Unentbehrlichkeit im Wirtschaftsleben schützt die Juden in den Schweizer Städten zunächst vor Vertreibungen. Eine Ausnahme bildet eine Verfolgung von 1288 in Bern, wo es wegen eines angeblichen Ritualmordes an einem Kind zu Hinrichtungen und Ausweisungen kommt. Bis gegen die Mitte des 14. Jahrhunderts hin bleibt aber der teuer erkaufte Rechtschutz wirksam. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass um 1300 Juden, die vor den Verfolgungen in Frankreich fliehen müssen, in Basel und anderen Städten Aufnahme gefunden haben.
Autor
Werner Meyer, 2009
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