Trotz judenfeindlicher Flüchtlingspolitik gelang rund 22’500 Verfolgten die Flucht in die Schweiz. Hier nahmen sich die Juden und Jüdinnen ihrer Schutz suchenden Glaubensgenossen gemäss ihrer jüdischen Solidarität an. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurde den Juden, als kleiner Minderheit in der Schweiz, die Finanzierung des jüdischen Flüchtlingswerks vom Staat aufgebürdet.
Hilfe
Unmittelbar nach dem Boykott jüdischer Geschäfte in Deutschland vom 1. April 1933 wurde in Zürich im Auftrag des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) das „Comité für jüdische deutsche Flüchtlinge“ gegründet. Als Sitz des Verbands Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (VSIA) wurde Zürich zur Zentralstelle der neu zu gründenden Flüchtlingscomités in der Schweiz bestimmt. Ausser in Zürich gründeten die jüdischen Gemeinden von Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern und St. Gallen Lokalcomités für die Flüchtlingshilfe. Ab Oktober 1934 war der VSIA für die Durchführung der gesamten Flüchtlingshilfe in der Schweiz verantwortlich, während die Mittelbeschaffung dem SIG oblag.
Finanzierung
Während in der Schweiz die Internierung von militärischen Flüchtlingen völkerrechtlich geregelt war, gab es keine entsprechende Vereinbarung für zivile Flüchtlinge. Da ausserdem ein striktes Erwerbsverbot galt, waren die Flüchtlinge vorerst ganz auf eigene Mittel beziehungsweise die schweizerischen Hilfswerke angewiesen. Die Hilfswerke der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe, die 1936 als Dachorganisation aller Flüchtlingshilfswerke der Schweiz gegründet worden war, gaben von 1933 bis 1947 insgesamt 69,9 Millionen Franken für die Flüchtlingshilfe aus. Traditionsgemäss unterstützte ein Hilfswerk diejenigen Flüchtlinge, die seiner religiösen oder sozialen Ausrichtung entsprachen. So trugen die jüdischen Vereine zu dieser Zeit die grösste finanzielle Belastung. Der VSIA, der sich ab 1943 Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen (VSJF) nannte, gab von 1933 bis 1947 insgesamt 46 Millionen Franken aus. Davon steuerte das American Jewish Joint Distribution Committee über die Hälfte der Gesamtkosten bei. Der Bund unterstützte das jüdische Flüchtlingswerk in dieser Zeit lediglich mit einem Betrag von 3,2 Millionen Franken.
Arbeitslager
Die jüdischen Flüchtlinge - bis 1942 als „Emigranten“ bezeichnet - wurden in vom VSIA betriebenen Sammellagern oder privat untergebracht. Ab Frühjahr 1940 wurden die arbeitsfähigen Männer in die eidgenössischen Arbeitslager eingezogen, was eine finanzielle Entlastung der privaten Hilfswerke darstellte. Da die Schweiz für die ankommenden Flüchtlinge lediglich Transitland war, galt es, diese möglichst schnell weiterzubringen. Die jüdischen Hilfsorganisationen im In- und Ausland gingen davon aus, dass die Chancen für die Auswanderung beziehungsweise Weiterreise der Leute nach einer entsprechenden Umschulung erhöht würden. So wurden die Frauen entsprechend dem damaligen Rollenverständnis zu Haushaltshilfen, Näherinnen oder Kindermädchen, die Männer zu Schneidern, Schustern oder Landwirten „umgeschult“. Doch stellten die „Umschulungskurse“ hauptsächlich eine erzieherisch motivierte Beschäftigungstherapie dar, zumal die Emigration mit dem Kriegseintritt der USA 1941 fast ganz unmöglich wurde.
Diejenigen Personen, die nach August 1942 in die Schweiz geflüchtet waren, wurden in verschiedenen vom Bund eingerichteten militärisch und zivil geführten Lagern untergebracht. Insgesamt gab es rund 105 zivil geführte Lager und Heime. Obwohl diese Lager vom Bund unterhalten wurden, war die neue Situation eine technische und finanzielle Mehrbelastung für den VSIA/VSJF. Die Betreuung der verschiedenen Lager war regional auf die Flüchtlingscomités aufgeteilt. Der Verband war für die Beschaffung von Kleidung und Wäsche, je nach Lager für Urlaubsspesen, Taschengelder oder Spitalkosten zuständig und ausserdem für die Seelsorge aller Flüchtlinge verantwortlich. Während 1942 rund 7'300 jüdische Flüchtlinge vom VSIA betreut und ungefähr 2'200 vom Verband unterstützt wurden, waren es ein Jahr später 14'700 beziehungsweise 8'000 Personen.
Weiterwanderung
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges bestand die Aufgabe der Flüchtlingshilfe hauptsächlich in der Organisation der Rück- und Weiterreise der vielen Flüchtlinge, die teilweise seit mehreren Jahren in der Schweiz waren und oft nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Flüchtlinge und Emigranten hatte die Schweiz bis 1953 wieder zu verlassen.
Autorin
Noëmi Sibold, 2012
Literatur
Picard, Jacques: Die Schweiz und die Juden 1933-1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 1994
Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg (Hg.), Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, Bern 1999
Sibold, Noëmi: „Mit den Emigranten auf Gedeih und Verderb verbunden.“ Die Flüchtlingshilfe der Israelitischen Gemeinde Basel in der Zeit des Nationalsozialismus, Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, Bd. 8, Zürich/München 2002
Erlanger, Simon: „Nur ein Durchgangsland“. Arbeitslager und Internierungsheime für Flüchtlinge und Emigranten in der Schweiz 1940-1949, Zürich 2006.
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