Thursday, 8. November 2018, Zürich
[Es gilt das gesprochene Wort.]
Dr. Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
Die Nacht vom 9. zum 10. November 1938, die Reichspogromnacht, bildete für die Juden Europas eine Zäsur. Sie markierte den Beginn der Schoah.
Die Juden in der Schweiz, darunter meine Familie, hatten das Glück, von der unvorstellbaren Gewalt verschont zu bleiben, sie mussten keine Verfolgung und keine Vernichtung erleiden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass heute noch Menschen unter uns sind, die die furchtbaren Ereignisse der Pogromnacht als Kind oder Jugendliche miterleben mussten.
Berlin am 9. November 1938. Der damals sechzehnjährige Walter lebt bei Tante und Onkel. Sie gehen am Abend aus und weisen ihn an, in der Nacht die Wohnungstüre mit einem Schrank zu verbarrikadieren Er geht schlafen, wird aber vom Lärm von zersplitterndem Glas geweckt. Er begibt sich ans Fenster und sieht Unglaubliches: Im selben Haus im Parterre befindet sich ein jüdisches Geschäft für Damenunterwäsche. Walter beobachtet, wie ein SA-Trupp die Schaufenster mit Eisenstangen einschlägt und das Geschäft zur Plünderung freigibt. Es wird vor seinen Augen von einer johlenden Masse geplündert. Auch sieht er ein Gebäude lichterloh brennen. Zu seiner Erleichterung hört er die Sirenen der Feuerwehr. Doch entsetzt stellt er fest, dass die Feuerwehr nicht gekommen ist, um den Brand zu löschen. Sie ist gekommen, um die umliegenden Häuser zu schützen, während das brennende Gebäude in den Flammen verschwindet. Am nächsten Tag realisiert Walter, dass es sich um die nahe gelegene Synagoge gehandelt hat. Und ihm wird auch klar, dass er Deutschland schnellstmöglich verlassen muss.
Wien einige Tage nach dem 10. November 1938. «Wir gehen fort» sagt Ida zu ihren Eltern. Ihr Mann Jakob hat nur dank dem Umstand überlebt, dass er für tot gehalten wurde. Ein Trupp von Nazi-Schergen hat Jakob in der Reichspogromnacht so lange verprügelt, bis er sich nicht mehr bewegte. Ida beobachtete die Tat von der Wohnung aus. Hier hat sie sich mit ihrem kleinen Sohn Robert versteckt. Nach einigen Tagen geht es Jakob besser. Die kleine Familie fasst den Entschluss, Wien umgehend zu verlassen. Nur mit dem Nötigsten brechen Ida, Jakob und Robert Richtung Schweiz auf. Mehrere Versuche, die Schweizer Grenze zu überqueren, misslingen. Aber einmal noch wollen sie einen Versuch wagen. Genau in dem Moment, als sie den seichten Rhein bei Diepoldsau zu überqueren versuchen, beginnt der kleine Robert zu schreien. Der Grenzwächter, der auf der anderen Flussseite Dienst hat, hört das weinende Kind. Er ist bewaffnet und stellt sich der kleinen Gruppe in den Weg. Sie müssten zurück, erklärt er ihnen. Ida wendet sich entschlossen an ihn: «Erschiessen Sie mich. Aber ich gehe nicht mehr zurück.»
Die Schweizer Juden damals wurden vor der unvorstellbaren Gewalt, vor der Verfolgung, vor der Vernichtung verschont. Die Juden hierzulande waren in Sicherheit. Aber die Schicksale von Walter, von Ida, Jakob und Robert zeigen uns – stellvertretend für viele andere –, dass die Geschichte nicht an der Schweizer Grenze endete. Denn Walter, Ida, Jakob und Robert gelang glücklicherweise die Flucht in die Schweiz. Auch bei den Schweizer Juden waren einerseits die Sorgen und Ängste um Familienangehörige, Freunde und Bekannte auf der anderen Seite der Grenzen gross. Andererseits finden sich unter den Schweizer Juden zahlreiche, die selber oder deren Vorfahren damals in die Schweiz fliehen mussten. Und viele haben Angehörige, Freunde, Bekannte in der Schoah verloren.
Es ist ein spezieller Gedenktag, der sich nun zum 80. Mal jährt. Die Überlebenden und Zeugen der furchtbaren Ereignisse der Pogromnacht und der Schoah sind noch da – wenn es auch immer weniger werden. Sie sind es, die den nachfolgenden Generationen noch unmittelbar vom Erlebten berichten können. Wie lange noch? Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Erinnerung an die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts auch in Zukunft, gerade auch in der Schweiz aufrechterhalten bleibt.
Die Reichspogromnacht und die Schoah sind ein untrennbarer Teil der europäischen Geschichte und damit auch Teil der Schweizer Geschichte. Die Ereignisse von damals haben sich in die Geschichte der Juden überall und in der Schweiz eingeprägt. Sie sind Teil unserer Identität. Aber wie soll in Zukunft erinnert werden? Brauchen wir neue Formen des Erinnerns, wenn die letzten Zeugen und Überlebenden nicht mehr da sind? Und welche Verantwortung ergibt sich für uns aus der Geschichte und der Erfahrung der Pogromnacht und der Schoah?
Die Situation hat sich für uns Juden in Europa verschlechtert. Angriffe auf Juden in Frankreich, in Deutschland oder in Ungarn nehmen zu. Antisemitismus ist wieder salonfähig geworden. In der letzten Zeit hat sich das feindliche Klima weltweit weiter verschlechtert – auch, weil ranghohe Politiker Verschwörungstheorien aufgreifen, die mit antisemitischen Stereotypen spielen und sich moralische Werte – nicht zum Guten – verschoben haben. Und spätestens seit dem 27. Oktober 2018, dem Tag, an dem die tödlichen Schüsse auf elf Menschen in der «Tree of Life»-Synagoge in Pittsburgh fielen, ist unser Bild von Amerika als vermeintlich sicherem Ort für uns Juden ein anderes geworden; spätestens seit diesem furchtbaren Ereignis, muss uns allen klar sein: Antisemitismus, der abgrundtiefe Hass auf uns Juden, nur weil wir Juden sind, ist keine ferne Erinnerung. Sondern einmal mehr eine reale und unübersehbare Bedrohung und Gefahr, die wir mit grosser Sorge, beobachten.
Aber wie soll man dieser beängstigenden Situation begegnen. Den Kopf in den Sand stecken? Ganz sicher nicht! In diesen herausfordernden Zeiten haben wir eine besondere Verantwortung. Einige von uns politisch und sehr konkret in unseren Ämtern und Funktionen, die wir wahrnehmen. Aber genauso hat jede und jeder als Mitglied der Zivilgesellschaft eine Verantwortung zu tragen. Wir alle können, ja wir müssen sogar Einfluss nehmen, den Diskurs mitprägen. Engagieren wir uns im Kampf gegen Antisemitismus; setzen wir an bei der Aufklärung über Juden und jüdische Lebenswelten. Verstärken wir den Dialog von Mensch zu Mensch – über die Religionszugehörigkeit hinaus. Setzen wir uns alle vermehrt gegen jede Form von Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit ein. Dabei ist es von grösster Wichtigkeit, nicht nur dass, sondern vor allem wie wir unsere Erfahrungen, Erinnerungen und unsere Identität im Zusammenhang mit der Schoah vermitteln.
Wir befinden uns gerade jetzt in einer wichtigen Phase des Umbruchs: Denn bald sind die letzten Zeugen der Shoah nicht mehr da. Das ist eine Zäsur, weil damit das lebende Band zum Ereignis gekappt wird. Es gibt dann niemanden mehr, der direkt davon erzählen kann. Das Ereignis wird damit abstrakt. Dann, wenn die letzten Überlebenden nicht mehr selber vom Monströsen, das ihnen widerfahren ist, berichten können. Spätestens dann sind wir als Gesellschaft gefordert, neue Formen der Erinnerungskultur zu finden.
Das Wissen über die Shoah und über die Schreckensherrschaft der Nazis nimmt vor allem bei den Jungen dramatisch ab. Das muss uns aufrütteln! Hier ist die Politik gefragt, wenn es darum geht, den Unterricht über die Schoah weiterzuführen und zu vertiefen! Die Politik ist auch gefragt, wenn es darum geht, den an den Schweizer Grenzen Abgewiesenen und damit meist zum Tode Verurteilten in geeigneter Form zu gedenken! Und nicht zuletzt ist die Politik gefragt, wenn es darum geht, den vergessenen Schweizer Opfern der Schoah endlich zur Anerkennung zu verhelfen!
Aber: Nehmen wir alle unsere besondere Verpflichtung zum Erinnern wahr: Wir sind es den Opfern, den Überlebenden, sowie künftigen Generationen schuldig, zu gedenken, zu erinnern und nie zu vergessen, wohin der Hass von Menschen auf andere Menschen führen kann!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.