Sunday, 19. May 2019, Zürich

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Sehr geehrter Herr Bundesrat Cassis,
sehr geehrte Frau Regierungspräsidentin Walker Späh,
sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin Mauch,
lieber Rabbiner Hertig, sehr geehrte weitere Rabbiner und Vertreter von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften,
sehr geehrte Exzellenzen,
Sehr geehrte National-, Stände-, Kantons- und Gemeinderäte ,
liebe Shella Kertész, Bernhard Korolnik und David Bollag
und schliesslich liebe Freunde und Gäste

Wie schon seit einigen Jahren sind die Themen Antisemitismus und vor allem die Sicherheit jüdischer Gemeinden und Einrichtungen nicht nur aktuell, sondern drängend. Diese Geschichte schreibt sich leider fort und fort.

Alleine im letzten halben Jahr gab es weltweit beispiellose und schreckliche Attentate auf religiöse Einrichtungen von Christen, Juden und Muslimen, darunter auf zwei Synagogen in Pittsburgh und San Diego. Europaweit wird gewerweisst, ob es für Juden unter dem Eindruck von Übergriffen und Beschimpfungen nicht gescheiter wäre auszuwandern. Für uns in der Schweiz scheint das alles manchmal weit weg. Doch wir dürfen trotz der scheinbar heilen Welt nicht die Augen davor verschliessen, dass die Sicherheitslage in der Schweiz ebenfalls kritisch ist.

Auch hier gibt es Übergriffe, auch hier gibt es antisemitische Einstellungen. Aktuellstes und erschreckendes Beispiel ist wohl die Neonazigruppe, die diese Woche Schlagzeilen machte. Die letzten Monate haben klar gemacht, dass unsere Sicherheitsbehörden ihr Augenmerk viel stärker auch auf die Gefahren von rechts richten müssen. Bis jetzt war der Fokus praktisch nur auf islamistischen Terror und auf Terror aus der linksradikalen Szene gerichtet. Entsprechend haben wir seit Jahren an unseren Sicherheitsvorkehrungen gearbeitet. Und auch seit Jahren tragen wir diesen Aufwand alleine. Nun endlich sehen wir aber auch ganz konkrete Zeichen, dass Bund, Kantone und Städte unsere Bemühungen anerkennen und Wege finden, uns zu unterstützen. Auch scheint vielen mehr und mehr bewusst zu werden, dass Antisemitismus kein Phänomen der Vergangenheit ist, sondern auch heute noch zum Alltag für jüdische Menschen gehört.

Viele sagen, wir bewegen uns hier ja in einem Bereich der Extreme. Dem möchte ich widersprechen – und dies mit grosser Vehemenz, meine Damen und Herren. Hass und Ablehnung müssen bekämpft werden, heute und überall. Wir müssen uns aber auch um die Grundlagen unserer Gesellschaft kümmern. Die Werte und das Selbstverständnis einer Gesellschaft können dem Hass seinen Nährboden entziehen. Wenn negativ besetzt, können sie dem Hass aber auch einen Nährboden bieten. Eine offene und gesunde Gesellschaft ist der beste Schutz, den wir alle, und vor allem wir Minderheiten, uns erhoffen können.

Aber… Allgemein beobachten wir in der Schweiz zunehmend, dass vor allem auch das Verständnis für Religion und besonders für Minderheitsreligionen abnimmt. Dies hat einerseits mit der fortschreitenden Säkularisierung zu tun. Darüber hinaus scheint es auch fast so, dass sich schleichend ein Menschenbild verfestigt, das festlegt, wie jemand zu leben und zu sein hat. Mit Vielfalt hat das wenig zu tun, und dies, obwohl dabei sehr oft von einer freien, offenen und liberalen Gesellschaft gesprochen wird. Gleichzeitig wird dann aber jede Lebensweise, die nicht dem Mainstream entspricht, in Frage gestellt und an den Rand gedrängt.

Dies führt zum Beispiel dazu, dass die Knabenbeschneidung aus religiösen Gründen, unsere Brit Milah, von immer mehr Menschen als inakzeptabler Eingriff in die Souveränität des Kindes und von einigen sogar als Kindsmissbrauch angesehen wird. Dabei herrscht sehr oft die Meinung vor, dass sich das Menschenrecht auf freie Religionsausübung stets hinter alle anderen Menschenrechte einreihen müsse.

Gleichzeitig sehen wir auch eine immer stärker werdende Ablehnung ganz allgemein von Minderheiten. Dies tritt nun auch in der Politik vermehrt auf, wo auf populistische Weise Minderheiten als Sündenböcke für jegliche Probleme missbraucht werden. Stichwort Flüchtlinge, Ausländer, Muslime. Damit im Zusammenhang steht die schon fast unglaubliche Zunahme von antisemitischem und allgemein rassistischem Hate Speech, besonders in den Sozialen Medien. Diese Probleme gibt es auf der ganzen Welt und leider ist die Schweiz davon auch nicht ausgenommen.

Ich denke darum, es ist berechtigt, sich die Frage zu stellen: Ist unsere Schweiz immer noch das Land der Vielfalt, als das wir Schweizer es so gerne sehen? Ein Land, in dem auf sehr kleinem Raum Menschen verschiedener Sprachen, Konfessionen, Religionen und Kulturen friedlich miteinander leben? Oder sind die zahlreichen Minderheiten, die in diesem Land leben und arbeiten, von der Mehrheitsgesellschaft nur gerade knapp geduldet und stossen bei vielen sogar auf Ablehnung? Ich habe auch oftmals das Gefühl, dass viele Menschen gar nicht unbedingt ein vielfältiges und buntes Land wollen. Sie sehnen sich eher nach einem Land wie zu Gotthelfs Zeiten, mit Bewohnern die christlich, weiss und heterosexuell sind.

Doch was bedeutet dies für uns Minderheiten, ja für alle Menschen in der Schweiz? Es kann eigentlich nur eines bedeuten, nämlich dass wir uns tagtäglich dafür einsetzen müssen, dass die Schweiz ein Land geeint in der Vielfalt bleibt. Dies kann aber nur funktionieren, wenn wir miteinander reden. Wenn wir einen Dialog auf Augenhöhe führen und uns nicht hinter Unwissenheit und Misstrauen verstecken. Vor allem müssen wir aber auch akzeptieren, dass wir nicht alle gleich sind.

Es sind die Unterschiede zwischen uns, die die Vielfalt und das Schöne dieses Landes ausmachen. Es ist die Freiheit, die es uns allen ermöglicht, uns zu entfalten und mit allen Unterschieden gemeinsam in dieser Gesellschaft zu leben. Dafür müssen wir Sorge tragen und es auch manchmal aushalten, dass wir nicht alle gleich aussehen, uns gleich verhalten oder gleich denken. Trotzdem sind wir alle Teil der Schweizer Bevölkerung und nur zusammen bringen wir uns und dieses Land weiter.


Rede von Präsident Herbert Winter an der Abendveranstaltung der Delegiertenversammlung 2019 des SIG im ICZ-Gemeindezentrum am 19. Mai 2019.

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