Jüdisches Gemeindeleben und innerjüdische Solidarität waren seit jeher eng miteinander verbunden. In erster Linie galt die Hilfe Durchreisenden, Armen und Kranken. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die jüdische Armenfürsorge in der Schweiz lokal organisiert. Diese Situation änderte sich an der Jahrhundertwende, als die zunehmende Migration von Jüdinnen und Juden aus Osteuropa nach Westeuropa und nach Übersee als Folge von Antisemitismus und wirtschaftlicher Not sich auch in der Schweiz bemerkbar machte.
Anfänge
Das erste Reglement eines «Verbandes Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen» (VSIA) datiert vom Mai 1908. Der VSIA war als loser Verbund der jeweiligen Armenpflegen der einzelnen jüdischen Gemeinden gedacht. Seine Hauptarbeit lag in der Unterstützung ausländischer, mittelloser Jüdinnen und Juden. Insbesondere zur Verhinderung von Missbräuchen wollte man eine «Centralstelle» schaffen, die Angaben zu den Unterstützungsempfängern sammeln und verwalten sollte. Die Jahre des Ersten Weltkriegs stellten für die jüdische Armenfürsorge (noch) keine Zäsur dar. Die Arbeit der vage zentralisierten jüdischen Armenfürsorge entfaltete bis in die Mitte der 1920er Jahre keine grosse Wirkung. Erst die Ängste vor einer «Überflutung» durch Emigranten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs führten zu einer eigentlichen Neugründung und Stärkung der Befugnisse des Verbandes. Zu Beginn der 1930er Jahre kümmerte sich der VSIA um Mittellose, Durchreisende sowie Lungenkranke in Davos. Optimistisch konnten die Verantwortlichen jedoch feststellen, dass sich die sozialen Probleme in der Schweiz in den meisten Fällen von selbst – also ohne die Hilfe und Koordination einer zentralisierten Armenfürsorge – lösten.
Finanzieller und organisatorischer Druck
Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler trübte diese optimistische Einschätzung und machte alle Hoffnungen zunichte. Bereits im Frühling 1933 kamen Tausende deutscher Jüdinnen und Juden in die Schweiz. Unter der Schirmherrschaft des SIG wurde im April 1933 ein «Centralcomité für Flüchtlingshilfe» gegründet, das mit lokalen Ablegern in den grösseren Städten der Schweiz vertreten war. Der VSIA wurde so zur zentralen Flüchtlingsorganisation der jüdischen Gemeinden in der Schweiz. In den kommenden Jahren nahm der finanzielle und organisatorische Druck auf den VSIA kontinuierlich zu. Da sich die Eidgenossenschaft bis 1940 weitgehend weigerte, für die Betreuung von Flüchtlingen aufzukommen, war die Akquirierung finanzieller Mittel einer der grössten Sorgen der jüdischen Flüchtlingshilfe. Die Aufnahme von Flüchtlingen machten die Behörden in den meisten Fällen von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln der jüdischen Schweiz abhängig, so dass der VSIA und mit ihm zusammen der SIG immer wieder vor schwere Zerreissproben gestellt waren. Es galt, sich im Spannungsfeld zwischen einer Kooperation mit den Behörden, materiellen Anforderungen und moralischer Verantwortung zu positionieren. Mit dem Kriegsausbruch fielen die wenigen noch verbleibenden Chancen zur Weiterwanderung von Flüchtlingen – eine von den Behörden gestellte Forderung zur Einreise – weg. Vielerorts wurden zudem Stimmen laut, die verkündeten: «Das Boot ist voll.» Der Druck auf die jüdischen Organisationen in der Schweiz stieg.
Ab Mitte 1943 zeichnete sich eine Wende im Kriegsverlauf zugunsten der Alliierten ab, und die jüdische Flüchtlingshilfe konnte ihre Arbeit in eine hoffnungsvollere Perspektive stellen. Im selben Jahr erfolgte eine Restrukturierung und eine Unbenennung in «Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen/Flüchtlingshilfen (VSJF). Es entstanden zwei personell identische Verbände: VSJF (Fürsorgen) und VSJF (Flüchtlingshilfen). Im Frühsommer 1944 wurde die jüdische Flüchtlingshilfe mit der Tragödie der ungarischen Juden konfrontiert. Das Ausmass der Schoah wurde im Schicksal der Deportierten offenbar. Aufgrund von verschiedenen Rettungsaktionen gelangten Überlebende aus den Konzentrations- und Todeslagern der Nazis in die Schweiz, derer sich der VSJF annahm. Die restriktive Aufnahmepolitik der Behörden – die antisemitisch geprägte Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik der Vorkriegszeit wurde in der Schweiz auch nach der Schoah fortgesetzt – verhinderte jedoch eine dauerhafte Aufnahme von Flüchtlingen in der Schweiz. So musste sich der VSJF auch in den Nachkriegsjahren in Zusammenarbeit mit amerikanisch-jüdischen Organisationen vorwiegend um die Organisation der Weiterwanderung kümmern. Ein Teil der betagten Dauerasylberechtigten konnten seit Ende der 1940er Jahre im vom VSJF betriebenen Heim «Les Berges du Léman» in Vevey untergebracht werden.
Restitution
Neben der materiellen und administrativen Unterstützung wurde in den 1950er Jahren auch die Frage nach der Restitution geraubter und verschollener jüdischer Vermögenswerte aktuell. Zudem engagierte sich die jüdische Flüchtlingshilfe für die Einforderung von Rentenansprüchen ehemals deutscher Jüdinnen und Juden in der Schweiz. Der VSJF stand seinen Betreuten (in den Akten meist «Schützlinge» genannt) mit spezialisierten Juristen zur Seite.
Weiterarbeit
Die Arbeit des VSJF ging auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter. Das Verhältnis zu den Behörden begann sich Ende der 1950er Jahre zusehends zu entspannen. Die Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Flüchtlingshilfe und den Behörden gestaltete sich zunehmend konstruktiv. Hintergrund dieser Neuausrichtung war eine (Rück-) Besinnung auf die humanitäre und neutrale Tradition der Schweiz, die sich nun vermehrt der Anliegen von Flüchtlingen annahm. Ein Ausdruck dieses Wandels manifestierte sich in der Aufnahme von so genannten Ungarn-Flüchtlingen nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1956 deutlich.
Während Jahrzehnten war der VSJF eine Abteilung des SIG. Heute ist er ein eigenständiger Verein und gleichzeitig das Sozialressort des SIG.
Präsidenten und Präsidentinnen des VSJF
19[?] – 1938 | Erwin Hüttner |
1938 – 1944 | Silvain S. Guggenheim |
1944 – 1946 | Pierre Bigar |
1947 – 1968 | Otto H. Heim |
1969 – 1974 | Dipl. Ing. J. Zucker |
1975 – 1976 | Dr. Walter Werschner |
1977 – 1983 | Armand Dreyfus |
1984 – 1995 | Dr. Myrthe Dreyfuss |
1996 – 2008 | Doris Krauthammer |
seit 2008 | Gabrielle Rosenstein |
Autor
Zsolt Keller, 2009
Literatur
Picard, Jacques: Die Schweiz und die Juden 1933-1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 1997.
Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG) (Hg.): Jüdische Lebenswelt Schweiz. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Zürich 2004.
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