Mit den Terroranschlägen der Hamas in Israel und dem Krieg in Gaza ist die Zahl der registrierten antisemitischen Vorfälle 2023 off- und online dramatisch in die Höhe geschnellt. Insbesondere in der realen Welt musste eine noch nie dagewesene Intensität in der Wortwahl und sogar bei physischen Übergriffen festgestellt werden. Die versuchte Tötung eines Juden in Zürich Anfang März diesen Jahres stellt einen Kulminationspunkt dieser Dynamik dar.

Die Terroranschläge der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 und der dadurch ausgelöste Krieg gegen die Hamas in Gaza haben eine regelrechte Antisemitismuswelle bewirkt. Die Erhebungen des Antisemitismusberichts des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG und der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus zeigen eine massive Zunahme antisemitischer Vorfälle und die Manifestation eines Triggerereignisses, wie es in diesem Ausmass in den letzten Jahrzehnten nie beobachtet wurde. 74 Prozent der Vorfälle des Jahres 2023 in der realen Welt fielen auf den Zeitraum nach dem 7. Oktober, bei den Fällen Online waren es 47 Prozent. Besonders auffallend sind die 10 registrierten Tätlichkeiten, also direkte physische Übergriffe auf jüdische Menschen. Bisher wurde jährlich lediglich 1 oder gar keine Tätlichkeit registriert.

Zu den Zahlen und Kategorien des Jahres 2023

Im Vergleich zum Vorjahr gab es eine enorme und beispiellose Steigerung der registrierten antisemitischen Vorfälle in der realen Welt um 98 auf 155 Fälle (2022: 57). 114 Vorfälle wurden in den knapp drei Monaten zwischen dem 7. Oktober und dem Jahresende registriert. Von den 10 Tätlichkeiten (2022: 1) ereigneten sich 6 alleine im Oktober und insgesamt 7 bis Jahresende. Auch bei den Kategorien Schmierereien, Auftritte und Plakate/Banner lassen sich die grossen Steigerungen auf die Zeit nach dem 7. Oktober zurückführen: 34 der 42 registrierten Schmierereien (2022: 9), 7 der 8 Auftritte (2022: 1) und alle 10 Plakate/Banner (2022: 1) stammen aus diesem Zeitraum. Bei den Beschimpfungen ist die ungleiche Verteilung über das Jahr weniger stark: 18 der 47 Beschimpfungen (2022: 16) wurden nach dem 7. Oktober registriert. Einzig bei den Aussagen, 11 von 38 nach dem 7. Oktober, ist keine ausserordentliche Häufung im vierten Quartal zu beobachten (2022: 6). 2023 wurden keine Sachbeschädigungen gemeldet.

Über das gesamte Berichtsjahr nahm die Zahl der erfassten antisemitischen Vorfälle in der digitalen Welt nur vergleichsweise geringfügig zu und steigerte sich von 853 auf 975 Vorfälle. Die Ungleichverteilung ist aber auch hier bedeutend: mit 459 Vorfällen nach dem 7. Oktober. Der grösste Teil der beobachteten und gemeldeten Vorfälle entfällt weiterhin auf Telegram, wobei jedoch der prozentuale Anteil von 75 Prozent im Jahr 2022 auf 68 Prozent im Jahr 2023 leicht abnahm. Gesamthaft wurden also 1'130 antisemitische Vorfälle gemeldet oder beobachtet (2022: 910).

Die Hamas-Terroranschläge und der Gazakrieg lösen einen massiven Trigger aus

Eine derartige Häufung in der realen Welt von Tätlichkeiten, Schmierereien, Beschimpfungen und Vorfällen an Demonstrationen innert so kurzer Zeit ist beispiellos. Auch der Inhalt der Schmierereien und Zuschriften hat mit Todesdrohungen und Schoah-Vernichtungsfantasien eine in der Schweiz noch nicht gekannte Heftigkeit erreicht. Schon in früheren Jahren konnten Häufungen antisemitischer Vorfälle aufgrund von «Triggern» beobachtet werden. Trigger sind internationale oder nationale Ereignisse respektive Medienberichte dazu, die für einen begrenzten Zeitraum, meist wenige Tage, eine hohe Anzahl an antisemitischen Vorfällen zur Folge haben. Die Terroranschläge vom 7. Oktober und der dadurch ausgelöste Gazakrieg stellen genau so einen Trigger dar, der aber im Vergleich eine regelrechte Antisemitismuswelle ausgelöst hat. Deutlich wird dieses Phänomen auch in der Kategorie «israelbezogener Antisemitismus», deren Anteil von 6.4 Prozent in 2022 auf 20 Prozent zugenommen hat.

Soweit eine Zuordnung möglich war, ist ersichtlich, dass unterschiedliche Gruppen getriggert wurden: sowohl rechts- und linksextreme, pro-palästinensische als auch solche aus der Mitte der Gesellschaft. Wie schon in den letzten beiden Berichtsjahren ist Online der Telegramkanal jene Plattform in der Schweiz, die zahlreiche Vorfälle generiert. Offener Antisemitismus ist dort in vielen Chats ungehindert möglich, ohne dass gelöscht wird und die User gesperrt werden. Hier agiert weiterhin jene staats- und gesellschaftsfeindliche sowie verschwörungsaffine Subkultur, in der Antisemitismus fast unwidersprochen ausgelebt wird. Dieser passt sich in Inhalt und Erscheinung jeweils den gerade aktuellen Themen an, sei dies Corona, der Ukrainekrieg oder zuletzt eben der Krieg Israels gegen die Terrororganisation Hamas.

Versuchte Tötung eines Juden ist schwerwiegendstes Hassverbrechen seit zwei Jahrzehnten

Am Samstagabend, am 2. März 2024, wurde gegen 22 Uhr in Zürich Selnau ein äusserlich als jüdisch erkennbarer Mann Opfer einer Messerattacke. Das 50-jährige Opfer wurde sehr schwer verletzt. Nur mit viel Glück hat er das Attentat überlebt. Er befindet sich aber weiterhin in intensiver Spitalpflege. Der festgenommene Täter ist ein 15-jähriger schweizerischer und tunesischer Doppelbürger. Er hatte seine Tat im Internet angekündigt und sich dort zum Islamischen Staat IS bekannt. In seinem Video und am Tatort hat er sein Ziel klar gemacht: Er will Juden töten.

Diese Tat stellt das schwerwiegendste antisemitische Hassverbrechen in der Schweiz seit zwei Jahrzehnten dar. Auch im europäischen Vergleich ist die Tat ein Ausnahmeereignis. Die genauen Hintergründe der Radikalisierung des Täters sind noch Teil der Untersuchungen. Dass diese Tat aber in Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza steht, ergibt sich aus dem Video des Täters. Der im Oktober ausgelöste Trigger hat eine Dynamik entfacht, wie sie in der Schweiz in diesem Ausmass noch nicht bekannt war. Die reine Zahl der Vorfälle ist erschreckend. Die Intensität und Heftigkeit, die bei den einzelnen Vorfällen zu Tage traten, sind für sich ebenfalls aussergewöhnlich. Hier ist eine Dynamik im Gange, die einerseits latent vorhandenen Antisemitismus an die Oberfläche spült und andererseits verstärkend wirkt. Die Messerattacke auf den jüdischen Familienvater, das willkürlich ausgewählte jüdische Ziel, stellt hier einen Kulminationspunkt dar.

SIG und GRA fordern ein klares und unmissverständliches Zusammenstehen von Politik und Zivilgesellschaft

Diese Welle antisemitischer Vorfälle und schliesslich die versuchte Tötung eines Juden haben spürbare Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz. Die Unsicherheit ist stark gestiegen. Sich als jüdisch in der Öffentlichkeit zu erkennen zu geben, wird vielfach von Besorgnis, Zurückhaltung bis Angst begleitet. Gesellschaftspolitisch ist das inakzeptabel. Diese Entwicklung mit der Messerattacke als bisherigem Höhepunkt muss eine Zäsur in der schweizerischen Politik zur Antisemitismusbekämpfung zur Folge haben. Es ist ein Weckruf auch für die Zivilgesellschaft, die mit Gegenrede, Zivilcourage und Dialog reagieren muss. Vorangehen müssen Politik und Behörden, welche den bereits mehrfach dargelegten Forderungen nach Massnahmen nachkommen müssen. SIG und GRA haben jahrelang davor gewarnt, dass auf Worte auch Taten folgen können. Hier stehen wir nun, jetzt kann nicht mehr abgewartet werden. Es braucht dringend mehr staatliches Engagement beim Monitoring von Antisemitismus und Rassismus. Es braucht endlich eine rechtliche Handhabe gegen Hassrede. Es braucht den Willen, auf Social Media-Plattformen einzuwirken, damit diese die Verbreitung von Hass unterbinden. Generell braucht es eine klare Strategie des Bundes gegen Antisemitismus, hier muss die Politik die Diskussionen beschleunigen. Schliesslich braucht es ein deutliches Zeichen gegen Nazi-Symbole, die dieses Jahr zahlreich an Hauswänden aufgetaucht sind. Hier muss das Parlament auf eine rasch umsetzbare und konstruktive Spur zurückkommen und eine uferlose Debatte vermeiden.

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    Die Terroranschläge der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben in der Schweiz regelrecht eine Antisemitismuswelle ausgelöst, die durch den folgenden Krieg in Gaza weiter angetrieben wurde. Die Erhebungen des Antisemitismusberichts zeigen hier die Manifestation eines Triggerereignisses, wie er in diesem Ausmass in den letzten Jahrzehnten nie beobachtet wurde.

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    Die SIG Medienstelle steht Ihnen für Hintergrundinformationen und die Vermittlung von Interviews zur Verfügung.

    +41 43 305 07 72, media@swissjews.ch

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