Antisemitismus ist in der Schweiz gelebte Realität
Die Studie «Erfahrungen und Wahrnehmungen von Antisemitismus unter Jüdinnen und Juden in der Schweiz» der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW ist erschienen. Sie bietet einen umfangreichen Einblick in die momentane Stimmungslage der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz. Die Studie bestätigt in weiten Teilen bisherige Befunde zum Antisemitismus in der Schweiz und zeigt auch bestehende blinde Flecken in den Analysen auf. Antisemitismus ist auch hierzulande ein existierendes Phänomen, wenn sich auch der Antisemitismus weniger dramatisch als in anderen europäischen Ländern manifestiert.
Das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW hat eine Studie zu Antisemitismus veröffentlicht. In Zusammenarbeit mit der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA führte die ZHAW eine schweizweite Befragung von Jüdinnen und Juden zu ihren Erfahrungen mit Antisemitismus durch. Die Studie orientiert sich an die 2018 von der European Union Agency for Fundamental Rights erarbeitete Studie, die sich auf Befragungen in zwölf Ländern der EU stützt. So soll es nun möglich werden die Situation in der Schweiz mit der Situation in anderen Ländern der EU zu vergleichen. Insgesamt konnten Anfang 2020 487 Jüdinnen und Juden befragt werden. Die ZHAW-Studie gibt einen Einblick in die Stimmungslage der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz. Dies betrifft Problemwahrnehmung, Erleben und Umgang mit Antisemitismus. Die Ergebnisse der Studie erhärten die Schlüsse, die bereits mit anderen Studien und Berichten zum Antisemitismus in der Schweiz gezogen werden konnten.
Weniger dramatisch im europäischen Vergleich
Die ZHAW-Studie bestätigt: Die Lage in der Schweiz ist im europäischen Vergleich weniger dramatisch. Antisemitismus wird zwar in der Schweiz durchaus von der Hälfte der Befragten als Problem wahrgenommen, dies aber auf einem tieferen Niveau als im europäischen Durchschnitt. Auch hat der Antisemitismus in der Wahrnehmung der Befragten gemäss ZHAW-Studie in den letzten Jahren zugenommen, wiederum aber weniger dramatisch als dies die Befragte der EU-Länder wiedergaben. Die grösste Gefahr gehe von Antisemitismus im Internet aus, so die Meinung der Befragten der ZHAW-Studie. Hier ähneln die Einschätzungen der Schweizer Befragten den Befunden aus den europäischen Ländern. Die Studie der ZHAW bestätigt auch die Tatsache, dass verbale und körperliche Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden traurige Realität in der Schweiz sind. Sie fänden aber offenbar etwas seltener statt als in den zwölf Ländern der EU-Studie. Im Grundsatz decken sich die Befunde der ZHAW-Studie mit denjenigen des Antisemitismusberichts, der vom SIG und der GRA jährlich herausgegeben wird. Im Gegensatz dazu werden im Antisemitismusbericht Vorfälle anhand von grundlegenden Definitionen und Rastern analysiert und bewertet. Die nun hier vorliegende Analyse der Wahrnehmung der befragten Jüdinnen und Juden leistet einen wichtigen Beitrag, um die Aussagekraft des Antisemitismusbericht zu untermauern. Sie birgt aber auch die Chance, blinde Flecken der bisherigen Analysen zu eruieren.
Blinde Flecken wegen Meldeverhalten
Besorgniserregend sind die Erkenntnisse der ZHAW-Studie bezüglich verbaler Belästigungen und Beleidigungen. Diese fänden mehrheitlich im öffentlichen Raum aber auch am Arbeitsplatz oder in Bildungsinstitutionen statt. Problematisch ist hier insbesondere die grosse Zurückhaltung beim Meldeverhalten. Die Opfer kommen oft zum Schluss, dass sich die Meldung eines Vorfalls an die Polizei oder an spezialisierten Organisationen wie den SIG nicht lohne – sei es wegen des Aufwands, der Konsequenzen oder aus anderen Gründen. So entsteht aber genau jene Dunkelziffer an antisemitischen Vorfällen in der Schweiz, die eine Einschätzung der Gesamtlage erschwert. Darum ruft der SIG eindringlich dazu auf, unbedingt antisemitische Vorfälle der SIG-Meldestelle zu melden. Weitere Felder, die aufgrund der Ergebnisse der ZHAW-Studie vermehrt in den Fokus gerückt werden sollten, sind Arbeitsplatz und Bildungsinstitutionen, wo antisemitisch motivierte Aussagen nicht selten vorkommen. Der SIG sieht dort ein nicht zu unterschätzendes Potential für Missverständnisse und fehlende interkulturelle Kenntnisse. Prävention und Aufklärung müssen auch bei Arbeitgebenden und in verstärktem Masse auch bei Bildungsinstitutionen angegangen und umgesetzt werden. Massnahmen wie zum Beispiel das SIG-Dialogprojekt Likrat können genau hier Abhilfe leisten.