Erinnerung

Auf dem jüdischen Friedhof Davos steht neu ein Gedenkstein für die Weggewiesenen während der Schoah. Hier die Rede von Ralph Lewin

Auf dem jüdischen Friedhof in Davos wurde seitens des SIG am 8. Mai 2022 ein Gedenkstein eingeweiht. Er ist den Flüchtlingen gewidmet, die durch die Schweiz weggewiesen und Opfer der Schoah wurden. SIG-Präsident Ralph Lewin hob in seiner Rede die Bedeutung der Erinnerung an die Opfer hervor.

Auf dem jüdischen Friedhof in Davos wurde ein neuer Gedenkstein eingeweiht. Er soll an die durch die Schweiz weggewiesenen Flüchtlinge während der Schoah erinnern. Viele von ihnen, oft jüdische Schutzsuchende, wurden damit in den sicheren Tod geschickt. Einige dieser Opfer sind bekannt, andere sind namenlos geblieben, fast alle fanden nie ein Grab. Der neue Gedenkstein wird nun allen namenlosen Toten gewidmet.Gegen Hundert Vertreterinnen und Vertreter des SIG, der jüdischen Gemeinschaft, der Gemeinde Davos und viele weitere Gäste haben sich am Sonntag, dem 8. Mai 2022, auf dem jüdischen Friedhof eingefunden, um diesen Opfern zu gedenken. Als Redner traten auf: Ariel Wyler, SIG-Geschäftsleitungsmitglied im Ressort Religiöses und Verwalter des Friedhofs, Rabbiner Moshe Baumel von der Israelitischen Gemeinde Basel, SIG-Präsident Ralph Lewin, Philipp Wilhelm, Landammann von Davos, sowie Ronnie Bernheim, als Vertreter der Überlebenden.

Grusswort von SIG-Präsident Ralph Lewin

**Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Landammann Wilhelm,

sehr geehrter Herr Ständerat Rechsteiner,

sehr geehrter Herr Nationalrat Heer.

Kwod Haraw

Lieber Ronnie Bernheim,

lieber Ariel Wyler,

liebe Liliane Isaak,

sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde

«Den Weggewiesenen, die Zuflucht suchten und haben kein Grab»

Mit diesem schlichten und doch ergreifenden Satz gedenken wir all jenen Menschen, denen in den Jahren des Nationalsozialismus die lebensnotwendige Rettung in die Schweiz nicht gelang. Tausende Flüchtlinge wurden weggewiesen, viele von ihnen wurden dadurch in den sicheren Tod geschickt.

Es berührt mich, dass Sie die Mühe nicht gescheut haben, hierherzukommen, auf den jüdischen Friedhof des SIG in Davos, damit wir diesen Gedenkstein heute gemeinsam einweihen können.

Wir tun dies in einer Zeit, in der der Aufnahme von Geflüchteten und unserem Umgang mit ihnen – leider – eine ganz besondere Bedeutung und Aktualität zukommen: Seit dem 24. Februar dieses Jahrs, seit dem durch nichts gerechtfertigten Angriff Russlands auf die Ukraine, sind Millionen von Menschen auf der Flucht. Wir haben diesen Angriff aufs Schärfste verurteilt. Wir sind erschüttert über diesen Krieg und fordern zum Frieden auf.

Die Zahl der in der Schweiz aufgenommenen Ukrainerinnen und Ukrainer bewegt sich auf die 50'000 zu. Unter ihnen sind auch Jüdinnen und Juden. Die hohe Hilfsbereitschaft, die auch von den jüdischen Gemeinden und Organisationen in der Schweiz ausgegangen ist bei der Unterstützung, Unterbringung und der Begleitung der Geflüchteten, ist bemerkenswert und erfüllt mich mit Stolz. Diese Solidarität steht in einer zutiefst jüdischen Tradition, die bis heute mit unserer Schwesterorganisation, dem Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen VSJF, fortbesteht. Er ist heute durch Liliane Isaak-Dreifus vertreten.

Jüdinnen und Juden sind besonders sensibilisiert bei diesem Thema: Jahrtausende der Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung, Flucht, Ermordung sind Teil unserer Geschichte, sind prägend, aber auch verpflichtend. Unsere Existenz zwingt aber auch alle anderen, Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Besonders das 20. Jahrhundert hat tiefe Narben hinterlassen. Die jüngeren Generationen haben dies nicht mehr am eigenen Leib erfahren. Aber was ist mit unseren Eltern, Grosseltern, Onkeln und Tanten? Welches Schicksal ist ihnen widerfahren? Wir alle kennen Geschichten von Verwandten, Bekannten, Freunden, die irgendwo in Europa oder sonst auf der Welt, teilweise als einzige einer grossen Familie, überlebt haben – oft aber auch nicht.

Viele der Ermordeten kennen wir mit Namen, andere sind für uns namenlos geblieben, fast niemand fand ein Grab. Den neuen Gedenkstein, den wir heute einweihen, widmen wir allen von der Schweiz Weggewiesenen, die in der Folge umgebracht wurden und kein Grab haben.

Wir tun dies an einem besonderen Tag, am 8. Mai, dem Tag, der in Europa das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert.

Gerade in einer Zeit also, in der wieder so viele Menschen durch einen grausamen Krieg zur Flucht gezwungen werden und sterben, sind wir besonders gefordert: Denn wer die Vergangenheit kennt und versteht, kann den Herausforderungen der Gegenwart besser begegnen. Und so erwarten wir, dass zumindest der Umgang mit den Menschen auf der Flucht auch dann grosszügig und unterstützend bleibt, wenn der Krieg länger dauert als wir alle hoffen.

Auch dafür steht das Zeichen, das wir heute mit dem Gedenkstein setzen möchten:

dass er das Bewusstsein für Zivilcourage, eine stabile Demokratie und starke Menschenrechte fördert und dass er uns die Bedeutung der Erinnerung für die Zukunft aufzeigt.

In letzter Zeit ist in der Schweiz einiges für die Erinnerung an die Opfer der Schoah getan worden. So werden seit einigen Jahren beispielsweise Stolpersteine, unter anderem in Zürich und Basel, gesetzt. Oder ich erinnere an das Projekt für ein Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus, das der SIG, als eine von mehreren Organisationen, von Anfang an unterstützt und begleitet hat. Im Mai 2021 haben wir das Konzept dafür dem Bundesrat übergeben.

An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Nationalrat Alfred Heer, unseren besonderen Dank aussprechen. Aufgrund Ihres grossen Engagements und mit der Lancierung einer parlamentarischen Motion ist es gelungen, für dieses wichtige Anliegen eine bemerkenswert grosse überparteiliche Unterstützung zu finden. Im Ständerat wurde diese Aufgabe genauso erfolgreich von Ständerat Daniel Jositsch übernommen. Dafür sind wir Ihnen beiden sehr verbunden, denn das Projekt hat nun dank einhelliger Unterstützung des Parlaments eine gute politische Basis, um realisiert zu werden. Wir werden es weiterhin begleiten.

Dieser neuste Gedenkort hier auf dem jüdischen Friedhof in Davos reiht sich in eine Erinnerungslandschaft von rund sechzig Orten ein, die über die Jahrzehnte auf private Initiative hin in der Schweiz entstanden sind. Die Orte erinnern an die Opfer der Schoah und der nationalsozialistischen Verbrechen, aber auch, und das darf nicht vergessen werden, an die vielen mutigen Menschen in der Schweiz, die Schutzsuchende, gegen Widerstand und unter Inkaufnahme von höchsten persönlichen Risiken, retteten. Sie haben mit dazu beigetragen, dass die Schweiz Flüchtlinge nicht nur abgewiesen, sondern Vielen auch Schutz geboten hat.

Speziell begrüssen möchte ich nun Herrn Ständerat Paul Rechsteiner. Sie sind heute als Vertreter der Paul-Grüninger-Stiftung hier. Der St. Galler Polizeikommandant, der 1938 und 1939 mehrere hundert jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung rettete und dabei alles verlor, bleibt uns bis heute ein grosses Vorbild.

Wenn wir uns nun überlegen, wie die Zukunft der Schweizer Erinnerungslandschaft aussieht, dann ist eines klar: Auch wenn es eines Tages hoffentlich an zentraler Stelle einen offiziellen und nationalen Gedenk- und Vermittlungsort geben wird, nämlich das «Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus», die regionalen Orte der Erinnerung und Vermittlung bleiben weiterhin von grosser Wichtigkeit. Denn nicht nur können sie dann später mit dem offiziellen Schweizer Memorial vernetzt werden. In manchen Fällen schaffen sie einen spezifischen Bezug zur Geschichte und zeigen die Notwendigkeit der Erinnerung für die ganze Schweiz auf. Sei es die Paul-Grüninger-Brücke, wo in Diepoldsau der Rhein die Schweiz und Österreich verbindet. Oder sei es eben hier in Davos: Ein für die jüdische und die Schweizer Geschichte gleichermassen bedeutender Erinnerungsort. Darüber wird uns später der Davoser Landammann Philipp Wilhelm mehr berichten. Dafür schon jetzt vielen Dank.

Der neue Gedenkstein kommt in der Nähe eines älteren Gedenksteins zu stehen, der kurz nach Kriegsende errichtet wurde. Auf Initiative des SIG hin wurden dort damals die sterblichen Überreste unbekannter Toter, die im KZ Buchenwald ermordet wurden, beigesetzt.

Zum Schluss möchte ich den privaten Unterstützern danken, die den Gedenkstein mit ihren Spenden ermöglicht haben. Und natürlich danke ich auch allen, die diesen Anlass vorbereitet haben und heute mit ihren Worten begleiten.

Wenn wir nun hier zusammenstehen und an die die namenlosen Opfer der Schoah erinnern, dann lassen Sie uns auch die vielen geliebten Menschen, die wir mit Namen kennen und die Unmenschliches und unvorstellbares Leid erlebt und überlebt haben – Familienmitglieder, Freunde, Bekannte –, in unsere Gedanken und Gebete einschliessen. Mögen ihre Seelen in Frieden ruhen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und übergebe das Wort nun an Rabbiner Moshe Baumel.

Abonnieren Sie jetzt die SIG News

Diese Website verwendet Cookies, um ein bestmögliches Nutzungserlebnis zu gewährleisten.

Dazu gehören wesentliche Cookies, die für den Betrieb der Website notwendig sind, sowie andere, die nur für anonyme statistische Zwecke, für Komfort-Einstellungen oder zur Anzeige personalisierter Inhalte verwendet werden. Sie können selbst entscheiden, welche Kategorien Sie zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass je nach Ihren Einstellungen möglicherweise nicht alle Funktionen der Website zur Verfügung stehen.

Diese Website verwendet Cookies, um ein bestmögliches Nutzungserlebnis zu gewährleisten.

Dazu gehören wesentliche Cookies, die für den Betrieb der Website notwendig sind, sowie andere, die nur für anonyme statistische Zwecke, für Komfort-Einstellungen oder zur Anzeige personalisierter Inhalte verwendet werden. Sie können selbst entscheiden, welche Kategorien Sie zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass je nach Ihren Einstellungen möglicherweise nicht alle Funktionen der Website zur Verfügung stehen.

Ihre Cookie-Einstellungen wurden gespeichert.