Bundespräsident Ignazio Cassis veröffentlicht eine eindrückliche Botschaft zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust
Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust hat Bundespräsident Ignazio Cassis eine eindrückliche Botschaft veröffentlicht. Er verbindet wichtige Appelle an die Bevölkerung mit einem Gespräch mit einem Schoah-Überlebenden.
Bundespräsident Ignazio Cassis hat zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust eine eindrückliche Botschaft veröffentlicht. Die Botschaft dreht sich im Kern um ein Schicksal, um eines der vielen Opfer der Schoah, um einen Überlebenden. Bundespräsident Cassis hatte sich mit Fishel Rabinowicz einige Tage zuvor im Tessin zum Gespräch getroffen. Rabinowicz ist heute 97 Jahre alt und einer der letzten Schoah-Überlebenden in der Schweiz. Cassis appelliert aber auch nachdrücklich daran, dass die Geschichte dieser Opfer nicht vergessen werden dürfe, dass die Erinnerung an sie in unserer Verantwortung liege und dass die Vielfalt der Schweiz stets zu verteidigen sei.
Die Botschaft in ihrer vollen Länge
Holocaust-Gedenktag: Die Verantwortung der Erinnerung – für die Opfer und für uns selbst
Botschaft von Bundespräsident Ignazio Cassis, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA, zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust
Quelle: Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten
Bern, 27.01.2022
Wir erinnern uns, weil wir nicht vergessen wollen. Weil wir nicht vergessen dürfen. Erinnern hilft zu verstehen. Es hilft aus der Geschichte zu lernen. Daher erinnern wir uns jedes Jahr am internationalen Holocaust-Gedenktag der sechs Millionen getöteten jüdischen Männer, Frauen und Kinder und aller anderen Opfer des Holocaust.
Heute sind es auf den Tag genau 77 Jahre, seit die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreien konnte. Noch elf Wochen länger mussten die Gefangenen des Konzentrationslagers Buchenwald ausharren. Einer von ihnen: Fishel Rabinowicz. Ich hatte die grosse Ehre, diesen wunderbaren Mann vor wenigen Tagen im Tessin persönlich zu treffen.
1. Kunst als Ausdruck der Erinnerung
Fishel Rabinowicz ist 97 Jahre alt und einer der letzten Holocaustüberlebenden in der Schweiz. 1924 in Polen geboren, wird er 1941 deportiert und verbringt fast vier Jahre in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Seine Eltern und sieben seiner neun Geschwister überleben den Holocaust nicht. Rabinowicz selbst wiegt bei seiner Befreiung keine 30 Kilogramm mehr, aber er lebt.
1947 kommt er als junger Mann in die Schweiz. Nach einem Aufenthalt im Sanatorium Davos macht er eine Lehre, heiratet und zieht ins Tessin. Stets ein begabter Maler, beginnt Rabinowicz nach seiner Pensionierung, das Erlebte in Bilder zu verarbeiten. «Meine Bilder sollen helfen, dass wir nie vergessen, was damals geschah», erklärt er seine Leidenschaft. 50 Kunstwerke sind über die Jahre entstanden. Eine eindrückliche visuelle Auseinandersetzung mit dem Judentum und der Shoah.
Auszüge des Gesprächs zwischen Fishel Rabinowicz und Ignazio Cassis als Video
2. Wir dürfen nie vergessen
Diese Bilder zu sehen und die unglaubliche Lebensgeschichte von Rabinowicz persönlich zu hören, hat mich sehr berührt. Noch können wir diese Zeugnisse von Überlebenden hören. Noch können wir diese Menschen treffen, ihnen die Hand geben und bei ihnen sitzen. Es sind leise Stimmen, die zu uns sprechen. Aber was sie zu sagen haben, ist wichtig – vielleicht wichtiger denn je. Es ist an uns, ihre Worte zu bewahren.
Der italienische Schriftsteller und Holocaustüberlebende Primo Levi sagte es eindringlich: «Denket, dass solches gewesen. / Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. / Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet / In einem Hause, wenn ihr gehet auf euren Wegen, / Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht / Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.»
3. Wir alle tragen eine Verantwortung
Wenn wir uns an den Holocaust erinnern, tun wir dies für die Millionen von Menschen, die ihn nicht überlebt haben. Wir tun es aber auch für die Hinterbliebenen. Wir tun es für uns. Nur, wenn wir verstehen, wie etwas geschehen konnte, können wir solche Gräueltaten in Zukunft verhindern. Die nach dem Krieg geborenen Generationen tragen keine Verantwortung für den Holocaust. Aber wir tragen sehr wohl die Verantwortung, uns zu erinnern und alles daran zu setzen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.
Wir haben die Verantwortung, gegen Antisemitismus, Rassismus, Hass und Gewalt und Totalitarismus einzustehen. Der Bundesrat spricht sich klar und unmissverständlich gegen Antisemitismus und Rassismus aus. Er hat zudem im vergangenen Juni einen Bericht verabschiedet mit Empfehlungen, wie die Massnahmen gegen Antisemitismus in der Schweiz weiterentwickelt werden können.
4. Vielfalt als höchstes Gut
Erinnerung an den Holocaust ist nicht möglich ohne die Vermittlung von Informationen und Wissen – vor allem, aber nicht nur, in Schulen. In den vergangenen Jahren gab es im Bereich der Informationstechnologie grosse Fortschritte. Dies ermöglicht es, gerade auch Junge anzusprechen und für die Geschichte des Holocaust und die Zeugnisse der Überlebenden zu interessieren. Zudem ist die Schaffung eines Schweizer Gedenkortes für die Opfer des Nationalsozialismus mir persönlich und dem Gesamtbundesrat ein grosses Anliegen.
Während des Holocaust wurden Millionen von Menschen ermordet – Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle. Ihre Träume und Hoffnungen wurden ausgelöscht im Namen einer menschenverachtenden Ideologie, die keine Vielfalt erträgt. Eine Vielfalt, die doch eigentlich unsere Stärke ist. Es ist an uns, alles daran zu setzen, diese Vielfalt zu achten und unter allen Umständen zu verteidigen. Wir müssen alle und immer wieder aufs Neue einstehen für jene, die sich nicht selbst zur Wehr setzen können – für eine freie, demokratische und rechtsstaatliche Welt.