Unnötige Debatte um Flüchtlingszahlen
Einmal mehr wird in der Schweiz über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gestritten. Eine neue Dissertation behauptet, die Zahl abgewiesener Flüchtlinge müsse nach unten korrigiert werden. SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner ist promovierter Historiker. Er bezweifelt, dass die Rolle der Schweiz neu beurteilt werden muss.
«Einmal mehr wird in der Schweiz über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gestritten. In den letzten Wochen jubelten Kreise, die in meinen Augen ein etwas zu romantisches Bild der Schweizer Vergangenheit haben, über eine Dissertation der Genfer Historikerin Ruth Fivaz-Silbermann. Der Grund: Fivaz schreibt, dass die Zahl abgewiesener Flüchtlinge viel tiefer gewesen sei als angenommen. Und dass Heinrich Rothmund, der damalige Chef der Fremdenpolizei, kein Antisemit, sondern vielmehr ein Freund der Juden gewesen sei. Für manche ist diese Dissertation gar Grund genug, nach einer Neubeurteilung der Rolle der Schweiz zu dieser Zeit zu rufen.
Als Historiker tue ich mich schwer bei der Beurteilung dieser Dissertation. Die 1000-seitige Arbeit liegt nämlich noch gar nicht vor, weshalb ich sie noch nicht studieren konnte und mich vor vorschnellen Urteilen hüten möchte. Und doch lassen sich zu den Zahlen und dem angeblich nicht vorhandenen Antisemitismus von Rothmund ein paar grundlegende Dinge festhalten:
- Es herrscht heute ein Konsens, dass die genaue Zahl der abgewiesenen Flüchtlinge mit der heutigen Quellenlage nicht exakt bestimmt werden kann. Viele Akten wurden vernichtet, von vielen Rückweisungen existieren gar keine Akten. Die Unabhängige Expertenkommission UEK schätzt die Zahl abgewiesener Flüchtlinge auf 24‘500 und geht davon aus, dass davon ein Grossteil Juden waren.
- Die Historikerin Fivaz-Silbermann kommt zu ihren Zahlen (4000 abgewiesene Flüchtlinge) mit einer Methode, die offenbar auf Kritik stösst. Mit der Materie vertraute Historiker bezeichnen die Methode als «Biertischrechnung» und «nicht kohärent» (Hans Ullrich Jost) oder «nicht nachvollziehbar und intransparent» und sogar «abenteuerlich» (Jacques Picard).
- Der Antisemitismus von Heinrich Rothmund ist gut belegt. Heinz Roschewski beschrieb bereits 1997 im vom SIG herausgegeben Buch «Rothmund und die Juden» die zwei Gesichter Rothmunds: Einerseits habe er sich immer wieder auf seine guten Beziehungen zu einzelnen Juden berufen. Andererseits habe er immer wieder vor einer «Verjudung der Schweiz» gewarnt. Und während er die «Westjuden» für assimilierbar und somit gut befand, hielt er die «Ostjuden» für anrüchig, verdächtig und nicht integrierbar.
Die gleichen Historiker, welche die Zahlen von Fivaz kritisieren, betonen aber auch den grossen Wert, der in der Nachzeichnung von unzähligen Einzelschicksalen liege. Dass Fivaz‘ Fürsprecher sich aber fast nur auf die 50 Seiten zu den Zahlen der abgewiesenen Flüchtlinge stürzen, die fast 1000 Seiten zu den Einzelschicksalen kaum thematisieren, sagt viel über die zu Fivaz Gunsten Argumentierenden aus.
Sobald erhältlich, werde ich die Dissertation mit Interesse studieren. Mich interessiert die Studie sowohl als Historiker als auch als Generalsekretär des SIG. Dass ich nach der Lektüre meine Einschätzung der Schweizer Rolle im Zweiten Weltkrieg revidieren muss, erwarte ich nicht. Denn die Fakten sind und bleiben die folgenden: Die damalige Schweiz hat die Religion nie explizit als Aufnahmegrund akzeptiert, Juden also nicht als Flüchtlinge anerkannt. Mit dieser Politik wurden Tausende von Juden in den sicheren Tod geschickt.
Und dennoch: Die Schweiz hat auch jüdische Flüchtlinge aufgenommen. Doch für diese mussten die Schweizer Juden selber aufkommen und dafür die Hilfe ausländischer jüdischer Organisationen in Anspruch nehmen. Und es gab Helden, die Menschenleben retteten, wie der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger. Ihm verdanken meine Grosseltern ihr Leben. Hätte Grüninger nicht seine Karriere und Ehre aufs Spiel gesetzt und, entgegen den Weisungen von Rothmund, Juden gerettet, würde es mich heute wohl nicht geben.»