Inputrede von SIG-Präsident Ralph Lewin am Journée FSCI in Genf zum Fokus «Erinnerung, Vermittlung, Zukunft» und dem Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus.
Genf, 14. Mai 2023
Es gilt das gesprochene Wort.
Vor rund einem Monat war ich in Warschau. Zum 80. Mal jährte sich ein Ereignis, das uns gleichermassen mit Trauer und mit Stolz erfüllt: Der Beginn des Aufstands im Warschauer Ghetto am 19. April 1943. Ich vertrat den SIG an den in Polen stattfindenden Feierlichkeiten. Aber es war für mich auch eine aufwühlende Reise, da meine Familie und meine Frau, wie viele von uns, viele persönliche Bezüge mit der Schoah verbinden.
Wie sollen unsere Enkelkinder eines Tages verstehen, wieso die Grosseltern ihrer Grossmutter in Rumänien grausam ermordet wurden, weil sie zufällig als Juden zur falschen Zeit am falschen Ort lebten? Oder wie erklären, wieso es in Warschau heute nur eine Synagoge gibt, wo es doch noch vor der Schoah derer 30 hatte?
Wie kann man das verstehen, geschweige denn erklären?
Als ich nun im April in Warschau war, hat mich die Rede des 97-jährigen polnischen Schoah-Überlebende Marian Turski beeindruckt. Turski, der als junger Mann Auschwitz und die Todesmärsche überlebt hatte, liess sich nach dem Krieg in Warschau nieder. Der Journalist ist heute Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau sowie Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees.
Turski richtete in eindringlichen Worten seinen Appell an das Publikum. Dabei sprach er vom 11. Gebot: «Ihr sollt nicht gleichgültig sein».
[Ich zitiere] «Seid nicht gleichgültig, wenn ihr historische Lügen hört. Seid nicht gleichgültig, wenn ihr seht, wie die Vergangenheit verbogen wird, um aktuellen politischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Seid nicht gleichgültig, wenn eine Minderheit diskriminiert wird, denn das Wesen der Demokratie besteht darin, dass die Mehrheit regiert. Aber Demokratie bedeutet auch, dass die Rechte von Minderheiten geschützt werden müssen. Seid dem Gebot treu. Das elfte Gebot: Ihr sollt nicht gleichgültig sein!» [Zitat Ende]
Als ich Turskis Worte hörte und mir sein hohes Alter vergegenwärtigte, wurde mir einmal mehr bewusst, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die letzten Überlebenden, die letzten Zeitzeuginnen und -zeugen, die noch selber von ihren schrecklichen Erlebnissen erzählen können, nicht mehr unter uns sein werden.
Umso mehr muss die Botschaft von Marian Turski so viele Menschen wie möglich und vor allem junge Menschen erreichen. «Ihr sollt nicht gleichgültig sein».
Die Schoah mit ihrer Vorgeschichte und ihren katastrophalen Folgen ist ein Thema, das alle angeht. Sie ist untrennbarer Teil der europäischen und damit auch Teil der Schweizer Geschichte. Alle müssen sich damit auseinandersetzen, die für Zivilcourage, eine stabile Demokratie und starke Menschenrechte einstehen. Nicht gleichgültig sein. Nur so kann in der Gegenwart und für die Zukunft gewirkt werden.
Am 26. April 2023 hat der Bundesrat wichtige Grundsatzentscheide für die Umsetzung eines Schweizer Memorials für die Opfer des Nationalsozialismus getroffen. Der Auftrag für das Projekt geht auf zwei gleichlautende Motionen von Ständerat Daniel Jositsch und Nationalrat Alfred Heer aus dem Jahr 2021 zurück, die von beiden Kammern einstimmig angenommen wurden.
Der jetzige Entscheid des Bundesrats, einen offiziellen und zentralen Erinnerungsort zu errichten, kommt zum richtigen Zeitpunkt und ist von grösster Bedeutung:
In einer Zeit, in der wir uns fragen müssen, wie in der Schweiz mit der Erinnerung an die Flüchtlingspolitik und an die Schoah umzugehen sei, setzt der Bund, zusammen mit der Stadt Bern, ein Zeichen gegen Völkermord, Antisemitismus und Rassismus. Der Erinnerungsort soll zudem den Austausch und die Debatte fördern und über die Landesgrenzen hinaus eine Wirkung entfalten.
Der Bund unterstützt ausserdem den Kanton St. Gallen bei der Planung und Realisierung eines nationalen, grenzüberschreitenden Vermittlungs- und Vernetzungsortes. Dieser Standort soll insbesondere der Schweizerischen Flüchtlingspolitik und den damit zusammenhängenden dramatischen Ereignissen an den Landesgrenzen, gewidmet sein. Eben dort, wo Tausende, vor allem jüdische Flüchtlinge abgewiesen oder ausgeschafft und oft in den sicheren Tod geschickt wurden.
Der SIG hat das Projekt zusammen mit anderen Organisationen seit Beginn mitgetragen und ist von seiner Notwendigkeit überzeugt. Die Opfer des Nationalsozialismus und der Schoah dürfen nicht vergessen werden. Sie und die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes sind tief im kollektiven Bewusstsein der Jüdinnen und Juden, auch hier in der Schweiz, verankert.
Der SIG möchte an dieser Stelle dem Eidgenössischen Departement des Auswärtigen EDA und Ihnen, verehrter Bundesrat Cassis, für Ihr grosses Engagement und die nun aufgezeigte Lösung danken. Ein weiterer grosser Dank geht insbesondere an Botschafter Simon Geissbühler, Chef der Abteilung Frieden und Menschenrechte im Staatssekretariat des EDA, der sich über seine normalen beruflichen Verpflichtungen hinaus für die Verwirklichung des Memorials eingesetzt hat. Wir sind auch der St. Galler Regierung zu grossem Dank verpflichtet, die sich in jeder Hinsicht für das Vermittlungs- und Vernetzungsprojekt in der Grenzregion stark gemacht hat.
Ein letzter Dank geht an die Personen und Organisationen in der Steuerungsgruppe für die interessanten Diskussionen und die konstruktive Zusammenarbeit.
Zuerst zu nennen ist hier die Auslandschweizerorganisation ASO, auf die die erste Initiative für das Projekt zurückgeht. Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern des Archivs für Zeitgeschichte der ETHZ, der christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz cja, dem Zentrum für jüdische Studien an der Universität Basel und mit der Unterstützung von freischaffenden Historikerinnen hat unsere Steuerungsgruppe dem Bundesrat das Konzept für ein Schweizer Memorial im Mai 2021 übergeben. Es freut uns, dass sich der Bundesrat bei der Umsetzung an diesem Konzept orientiert.
Wir sind nun alle sehr gespannt, wie sich das Memorial, mit seinen drei Pfeilern «erinnern – vermitteln – vernetzen», weiterentwickeln wird. Nun, da zumindest ideell, ein zentraler Grundstein für das Memorial gelegt wurde, ist es uns ein Anliegen, dass die Umsetzung zügig und mit konzeptionellem Weitblick angegangen wird. Dabei ist es wichtig, dass in Bern ein zentraler und öffentlich zugänglicher, würdiger Gedenkort geschaffen wird, so wie es der Bundesrat Ende April mitgeteilt hat. Besonders wichtig erscheint uns auch, dass die Realisierung des Memorials in der Bundeshauptstadt neben dem Erinnerungsort auch wesentliche Elemente der Vermittlung vorsieht: Das Erinnern zeigt Lehren für die Gegenwart und Zukunft auf. Aber vor allem mit einem edukativen Angebot sollen und können insbesondere junge Menschen und künftige Generationen zum kritischen Nachdenken über Vorurteile und Ausgrenzung befähigt werden. Deshalb bitten wir das EDA, dass von Anfang an massgebliche Vermittlungselemente des Mahnmals in Bern mitgeplant werden. Dabei zählen wir auch auf die Unterstützung des Eidgenössischen Departements des Inneren EDI, wo wichtige Kompetenzen im Bereich Vermittlung vorhanden sind und sich bereit erklärt hat, die Vernetzung dieser Orte zu unterstützen. Wir freuen uns auch, diesbezüglich mit Vertreterinnen der Stadt Bern ins Gespräch zu kommen. Ebenso wünschen wir uns, dass die vom Bundesrat angekündigte Zusammenarbeit mit dem Kanton St. Gallen bei der Planung und Realisierung eines grenzüberschreitenden Vermittlungs- und Vernetzungsortes rasch angegangen wird. Damit wird auch der dritte im Konzept vorgeschlagene Bereich des Memorials «vernetzen» erfüllt. Es ist dabei nur zu wünschen, dass sich ebenfalls weitere Kantone, an deren Grenzen im Zweiten Weltkrieg teilweise über Leben und Tod entschieden wurde, dieser Vernetzung anschliessen werden.
Im Zusammenspiel von Bundeshauptstadt und den Kantonen, massgeblich an den Landesgrenzen, sowohl in den Bereichen Erinnern als auch Vermitteln kann ein Memorial entstehen, das mehrere Funktionen übernehmen kann: Einerseits ist es nationaler Gedenk- und Vermittlungsort mit einer starken symbolischen und politischen Bedeutung und einem Bekenntnis zur Verantwortung in der Bundeshauptstadt. Andererseits können die Vernetzungsorte an der Schweizer Grenze Geschichte und Geschichten an den originalen Schauplätzen vermitteln, wie es kein Schulbuch vermag. So kann das Memorial auf den vielfältigen Ebenen einen gesamtschweizerischen Charakter erhalten, aber auch über die Landesgrenzen hinaus eine Wirkung entfalten.
Ich kann Ihnen versichern, dass der SIG auch weiterhin dem Bund, dem Kanton St. Gallen und der Stadt Bern bei der Umsetzung dieses sehr anspruchsvollen Projekts Hand bieten wird und wir freuen uns auf die interessante und konstruktive Zusammenarbeit.