Verband

Der SIG - eine selbstbewusste Stimme

Jonathan Kreutner ist seit zehn Jahren Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG. Im Hinblick auf dieses Jubiläum und das anstehende SIG-Wahljahr hat ihn das Tachles zum Interview getroffen. Entstanden ist ein Gespräch über die operative Arbeit, die Werte und die Strategie des SIG.

Tachles-Interview, 13. September 2019, Yves Kugelmann | Original: www.tachles.ch/artikel/schweiz/es-braucht-starke-interessensverbaende

Es braucht starke Interessensverbände

Seit zehn Jahren ist Jonathan Kreutner Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes – ein Gespräch im Hinblick auf das Wahljahr.

tachles: Im kommenden Mai finden im Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) Wahlen statt. Unter anderem wird das Präsidium neu gewählt. Was bedeutet das für Sie als Generalsekretär des SIG?

Jonathan Kreutner: Es wird für mich nach über zehn Jahren beim SIG sicher Veränderungen geben. Aber ich freue mich auch auf diese neue Zeit.

Die Geschäftsstelle ist in den letzten Jahren personell stark gewachsen auf nun elf Mitarbeitende

In Köpfen ausgedrückt ja, aber nicht in Stellenprozenten und Lohnsumme, da gab es in den letzten 15 Jahren keine markante Veränderung. Wir konnten sogar Einsparungen bei früher extern erbrachten Leistungen erreichen – das war das Ziel. Die Effizienz der Geschäftsstelle ist heute sehr hoch.

Sie wird aber relativ wenig für die Gemeinden eingesetzt. Ist politische und Öffentlichkeitsarbeit wichtiger?

Der SIG ist auch die Vertretung seiner Mitgliedgemeinden nach aussen. Es bedeutet nun einmal, dass politische und Öffentlichkeitsarbeit sowie Kommunikation die zentralen Aufgabenfelder eines Dachverbands sind. Ebenso ist Antisemitismus-Präventionsarbeit vorgegeben. Auch die Sicherheits- und Jugendarbeit, soweit wir sie ohne Eingriff in deren Autonomie erbringen können, dient den Gemeinden. In den letzten Jahren hat die Vernetzung der Gemeinden untereinander und ihre Involvierung in von uns vertretene Anliegen zugenommen. Natürlich könnten hier aber noch Ressourcen eingesetzt werden.

Wie lassen sich angesichts der Diversität unter den jüdischen Gemeinden die Anliegen überhaupt bündeln?

Die Heterogenität ist in der Tat gross. Als Dachverband konzentrieren wir uns deshalb auf den grössten gemeinsamen Nenner, und das bedeutet, dass die Gemeinden eine Stimme gegenüber der nationalen Öffentlichkeit haben, die der SIG als Einheit vertritt. Auch wenn sie als Institutionen autonom und selbstständig sind – und sein sollen – und ihr Dachverband gegen aussen nicht immer genau nach ihren Vorstellungen handelt: Sie sollten hinter dessen Positionen stehen können. Und das können sie in der Regel. Ich finde es eine bemerkenswerte Leistung, dass der SIG gegen aussen Themen bearbeiten kann und dabei von seinen Mitgliedern trotz aller Unterschiedlichkeit unterstützt wird.

Allerdings gibt es zwei Dachverbände. Der SIG repräsentiert damit ja eigentlich nur die Minderheit der an sich schon wenigen Schweizer Juden.

Das ist nicht korrekt. Tatsache ist, dass der SIG über 12 000 der 18 000 Juden in der Schweiz vertritt. Nach aussen treten wir zudem gemeinsam mit der Plattform der liberalen Gemeinden auf. Somit vertreten wir gemeinsam mit dieser eine grosse Mehrheit der Juden in der Schweiz. Wir haben in den letzten Jahren sogar versucht, auch Nichtmitgliedgemeinden in Basel, Luzern und im Tessin in unsere Arbeit einzubeziehen, wo dies möglich ist. Es ist uns wichtig, eine breite Stimme zu sein.

Wie wird diese Stimme aus Ihrer Sicht heute von aussen wahrgenommen?

Vor allem als konstruktiver, dialogbereiter und offener Partner, aber auch als selbstbewusste Stimme, die sich klar auszudrücken und, wenn nötig, zu wehren weiss.

Welche sind in Ihrer Zeit als Generalsekretär die Schwerpunktthemen?

Die Sicherheit ist ganz wichtig geworden. In letzter Zeit sind die Religionsfreiheit und die Prävention, sprich Aufklärungsarbeit und Dialog, gegen Antisemitismus präsenter. Besonders erwähnenswert ist hier das SIG-Leuchtturmprojekt Likrat.

Nach den Wahlen werden Sie als General­sekretär quasi der Dienstälteste im SIG sein. Was bedeutet das für Sie?

Ich hätte mir vor zehn Jahren nicht erträumt, so viel Erfüllung in dieser Arbeit zu finden und so ununterbrochen überzeugt hinter dem SIG und seinen Werten stehen zu können. Ich hoffe natürlich, dass das so bleibt, die aktuelle strategische Linie fortgeführt und die Zusammenarbeit weiterhin so konstruktiv sein wird. Damit werde ich mich auch künftig beim SIG sehr wohl fühlen.

Welches sind denn die SIG-Werte, die Ihnen persönlich wichtig sind?

Der konstruktive und dialogbereite Umgang mit externen Partnern, vor allem der Öffentlichkeit. Aber auch, dass gegen innen Respekt gegenüber der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit unserer Mitglieder gepflegt wird. Das ist, was beim SIG vorherrscht, nebst der Fähigkeit, zu differenzieren, sachbezogen zu agieren und das eigene Auftreten anhand der Situation und Notwendigkeiten abzuwägen. Für all das haben wir eine Verantwortung. Wir nehmen diese sehr bewusst und meines Erachtens sehr gut wahr.

Sie sprechen immer von Werten. Diese fordert der SIG gerne nach aussen ein. Nach innen nicht immer. Eine innerjüdische Herausforderung sind gemischt-religiöse Ehen. Der SIG äussert sich dazu kaum, gibt es dazu aber eine grundsätzliche Haltung?

Wir organisierten vor ein paar Jahren Tagungen zum Umgang der Gemeinden mit solchen Ehen, weil wir uns bewusst sind, dass jede von ihnen anders damit umgeht. Ich finde es wichtig, dass der SIG eine Plattform für diese Diskussion geboten hat, an der jeder teilnehmen konnte oder auch nicht.

Doch programmatisch ist bisher nicht viel geschehen. Ebenso wenig bei der Forderung, dass Mitgliedgemeinden etwa die in der Schweizer Verfassung verankerte Gleichberechtigung von Frauen umsetzen.

Das ist in der Tat eine grosse Herausforderung. Aber wir akzeptieren die Heterogenität unserer Mitgliedgemeinden und vertreten als SIG die Werte, von denen wir überzeugt sind.

Die strategische Ausrichtung des SIG muss sich ja aber auch an der Veränderung der Gesellschaft orientieren.

Ein Verband muss dynamisch und flexibel bleiben. Der SIG hat vor einigen Jahren auch durch Veränderungen gezeigt, dass er die Zeichen der Zeit im Rahmen der strukturellen Anpassung und der für die Gesellschaft ins Zentrum gerückten Themen erkannt hat. Wichtig auch: Wir nehmen jeweils gesellschaftspolitisch und gesamtgesellschaftlich Stellung; auch als Dachverband argumentieren wir nicht nur religiös, wie es etwa die Schweizer Bischofskonferenz oder der Schweizerische Evangelische Kirchenbund tun.

Die Anzahl jüdischer Gemeinden, vor allem Kleingemeinden, schwindet. Was bedeutet das für den Gemeindebund?

Wir können den demographischen Entwicklungen nicht entgegentreten, aber wir engagieren uns stark, wenn es um das Kulturerbe gerade auch von Kleingemeinden geht – zum Beispiel derzeit im Surbtal. Es ist wichtig, dass wir kleine Gemeinden unterstützen und für sie da sind und helfen, das Erbe, das sie ausmacht, zu erhalten.

Chabad dürfte mittlerweile ungefähr gleich viele Schweizer Juden vertreten wie der SIG. Müsste da der SIG nicht gelegentlich eine strukturelle Änderung ins Auge fassen, wie das zuletzt von der Arbeitskommission unter Alfred Donath im Jahr 2009 gefordert wurde?

Der SIG vertritt die Mehrheit der Schweizer Juden, aber irgendwann werden wir uns dennoch vielleicht dieser Frage stellen müssen.

Das Ziel müsste ja sein, alle Juden einzubinden, oder nicht?

Ich meine, dass wir schon heute relativ viele abholen, die nicht Gemeindemitglieder sind. Aber es ist eher illusorisch zu glauben, dass es dereinst nur noch einen riesigen Dachverband geben wird. Das wäre strukturell schwierig und vermutlich nicht einmal zielführend. Wichtiger ist doch, gemeinsam so viele Leute wie möglich zu erreichen und gegen aussen mit einer gemeinsamen Stimme zu reden. Es sollte für alle Beteiligten klar und unwidersprochen sein, dass wir legitim die Schweizer Juden auf nationaler Ebene vertreten.

Gilt das auch für die Romandie?

Ja. Es ist essenziell wichtig, dass wir auch die Romandie abholen und sie eng einbinden. Deshalb investieren wir viel Zeit in diesen Austausch – im Übrigen auch in jenen mit den streng religiösen Gemeinden. Daraus ist mittlerweile eine sehr konstruktive Zusammen­arbeit entstanden. Das war nicht immer so.

In den letzten Wochen haben Sie mit viel Aufwand eine Kampagne zur Aufklärung über ultraorthodoxen Tourismus in den Bergregionen lanciert. Wie wollen Sie die SIG-Werte mit den Auffassungen der fundamentalistischen Werte in der Orthodoxie vereinbaren?

Wir führen unsere Likrat-Vermittlungsaktion, auch mit den zwei Broschüren, ja in beide Richtungen. Wir erklären den charedischen Touristen, jenen aus dem Ausland, die Verhaltensregeln und Schweizer Eigenheiten. Darauf gab es viele positive, aber natürlich auch einige negative Reaktionen. Wobei unsere streng religiösen Mitgliedgemeinden ein Lob für ihre aktive, konstruktive Mitarbeit und Unterstützung an diesem Thema verdienen. Wir sind als Vermittler auf dem richtigen Weg, das hat mir die Woche, die ich in Davos verbrachte, eindeutig gezeigt. Denn die Probleme entstehen meist aus Missverständnissen und Unverständnis. Man kann durch Aufklärung viele überzeugen, wenn natürlich auch nicht alle. In jedem Fall sehen wir es als unsere Aufgabe, nicht zu polarisieren, sondern die Leute einander näher zu bringen. So ist dieses ganze Projekt auch ein Resultat unseres gesamten strategischen Denkens.

Wie sehr versteht sich der SIG demzufolge als Bestandteil einer integralen schweizerischen Gesellschaft?

Wir sind ein integraler Bestandteil der Schweizer Gesellschaft. Wir sind Schweizer und wir sind Juden. Als SIG vertreten wir in dieser Gesellschaft die Interessen der Schweizer Juden, von denen die allermeisten Schweizer Bürger sind und die Werte und Gesetze dieses Landes kennen.

Im jüdischen Europa arbeiten etwa Präsidenten oft vollamtlich. Ist das Schweizer Milizsystem in der Verbandsarbeit genügend professionell?

Das Milizsystem gibt es in vielen Vereinen und Verbänden. Der SIG verfügt aber auch über eine hoch professionelle Geschäftsstelle. Das wird sich für die Zukunft des SIG sicher positiv auswirken und ihn hoffentlich überlebensfähig halten. Persönlich finde ich, dass die durch einen basisdemokratischen Entscheid legitimierte Dualität von Miliz und Profi-Apparat gut funktioniert und dass es sie auch braucht. Dazu beigetragen haben vor allem aber auch die hervorragende Führung des SIG durch unseren Präsidenten und meine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihm.

Was wäre, wenn es den SIG in Zukunft einmal nicht mehr geben würde?

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass es auch in Zukunft starke Interessenverbände geben und brauchen wird. Anders kann man sich nur sehr schwer heutzutage im politischen Prozess einbringen.

Es zeigt sich doch aber, dass heute die Bedürfnisse und der Einsatzwille der Mitglieder respektive ihrer Vertreter nicht mehr im Ausmass von früher vorhanden sind. So haben SIG-Delegationen regelmässig Pro­bleme, genügend Freiwillige für die Delegiertenversammlung zu finden.

Mit dem ehrenamtlichen Einsatzwillen haben auch andere jüdische – und nicht jüdische – Verbände zu kämpfen. Das hat nicht nur mit den Strukturen des SIG zu tun, sondern ist allgemein immer schwierig und eine Frage des Zeitgeistes. Vielleicht macht der SIG auch einfach seine Arbeit gut, und die Leute finden, dass sie daran nicht viel aussetzen müssen.

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