«Minderheiten sind stärker unter Druck»
Herbert Winter präsidiert den Dachverband der jüdischen Gemeinden. Im Interview mit "reformiert" berichtet er von seiner Sorge, dass die Religionsfreiheit in der Schweiz zunehmend einen schweren Stand hat.
In einer Rede fragen Sie jüngst, ob die Schweiz noch ein Land der Vielfalt sei. Wie lautet Ihre Antwort?
Herbert Winter: Ich zog einst ins Ausland, weil mir Zürich zu langweilig wurde. Heute erlebe ich eine bunte, spannende Stadt, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Re-ligionen leben. Doch ich beobachte mit Sorge, dass Minderheiten vermehrt Probleme haben. Racial Profiling gehört zum Beispiel dazu, wenn also die Polizei Personen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit häufiger kontrolliert, oder die schwindende Akzeptanz der Religionsfreiheit für Minderheiten.
Ist die Religionsfreiheit gefährdet?
Sie ist angekratzt. Es gibt Bestrebungen, die Religionsfreiheit für Minderheiten einzuschränken. Minarettverbot, Kleidervorschriften, Koscherfleisch-Importe oder Schulabsenzen sind die Stichworte.
Einschränkungen der Religionsfreiheit lehnen Sie generell ab?
Nein. Der Religionsfreiheit stehen andere Grundrechte und das öffentliche Interesse gegenüber. Sie kann nie absolut gesetzt werden. Es geht um ein Abwägen im Einzelfall.
Und dabei zieht die Religionsfreiheit zunehmend den Kürzeren?
Das ist mein Eindruck. Minderheiten hatten es immer schwer, aber die Religion verliert insgesamt an Bedeutung, was die Entwicklung beschleunigt. Im laizistisch geprägten Kanton Genf etwa dürfen Staats-angestellte keine Kippa, kein Kopftuch und kein Kreuz tragen. 1993 entschied das Bundesgericht, dass ein muslimisches Kind nicht in den Schwimmunterricht der Schulklasse muss. Fünfzehn Jahre später hat es seine Praxis geändert und sich auf das überwiegende Interesse an der Integration berufen.
Liegt das nicht daran, dass sich insbesondere muslimische Eltern immer mehr Rechte herausnehmen?
Früher gab es nur wenige Schüler, die einer Minderheitenreligion angehörten. Wenn ein Lehrer damals einem jüdischen Schüler pragmatisch eine Feiertagsdispens erteilte, war das kein Problem. Ist wie heute manchmal die Hälfte der Kinder in einer Klasse muslimisch, sieht es anders aus. Dann erlässt der Staat Regeln, die natürlich für alle gelten. Die von SVP-Nationalrat Andreas Glarner befeuerte Debatte um Dispensationen an hohen religiösen Feiertagen zeigte nun, dass selbst die vernünftige Regelung im Kanton Zürich nicht unbestritten ist.
Sie haben die Dispensationsregelung prompt verteidigt. Warum?
Wir reagieren immer, wenn irgendwo die Religionspraxis angegriffen wird. Wird die muslimische Glaubensfreiheit angegriffen, folgt früher oder später ein Angriff auf die Religionsfreiheit von uns allen.
Andreas Glarner nahm später in der Debatte die Juden explizit aus und verwies auf die jüdisch-christliche Kultur der Schweiz.
Solchen Beschwichtigungen traue ich nicht. Und mit dem Begriff einer jüdisch-christlichen Kultur habe ich ohnehin meine Mühe. Unser Staatswesen ist aus dem Christentum heraus entstanden und punkt. Dass neuerdings auch das Jüdische genannt wird, ist in erster Linie gegen die Muslime gerichtet.
Halten Sie die Angst vor einer Islamisierung für berechtigt?
Für durchaus berechtigt halte ich die Angst, Opfer von islamistischem Terror zu werden. Vor der behaupteten Islamisierung habe ich persönlich aber keine Angst. Ich glaube nicht, dass der Schweizer Staat je so umgestaltet wird, dass er einen islamischen Charakter erhielte.
Dass sich Parallelgesellschaften bilden, muss doch verhindert werden.
Ja, aber nur wenn sie gegen Staat und Gesellschaft arbeiten. Es gibt auch jüdisch-orthodoxe Parallelgesellschaften mit eigenen Kindergärten, Schulen, Läden. Sie wollen einfach in Ruhe gelassen werden. Einen solchen Lebensstil muss ein liberaler Staat zulassen.