Antisemitismus

Ein offener Brief von SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner: Lieber Presserat, wir müssen reden

Erst vor wenigen Wochen löste ein Entscheid des Presserats nicht nur bei jüdischen Organisationen Irritationen aus. Ein neues Urteil sorgt nun für erneutes Staunen.

Der Presserat hatte das Onlineportal Prime News für einen Artikel zur BDS-Bewegung gerügt. Der Vorwurf: Prime News habe die Wahrheitsplicht verletzt, weil es die BDS-Bewegung als «antisemitisch gefärbt» bezeichnet hatte. Insbesondere die Herleitung des Urteils durch den Presserat löste Kopfschütteln aus. Sehr bedenklich ist, dass sich der Presserat in seiner Herleitung der Argumentation von BDS bediente und diese kritiklos übernommen hatte. Prime News wurde vorgeworfen, unsachgemäss berichtet, Expertenmeinungen nicht berücksichtigt und gar irreführende Antisemitismusdefinitionen verwendet zu haben. Doch es war genau umgekehrt. Der Presserat ignorierte die international und seit kurzem auch vom Bund anerkannte Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance IHRA. Der Presserat verliess sich weiter auf Verlautbarungen von BDS und unterschlug anderslautende Lehrmeinungen. Besonders stossend war darüber hinaus die Aussage des Presserats, dass es umstritten sei, ob die Ablehnung von Israels Existenzrecht antisemitisch sei. Seriöse Stellen, darunter die IHRA, sehen genau dies als antisemitisch an. Offensichtlich ist, dass der Presserat im Unterschied zum österreichischen Presserat auf eine kritische Betrachtungsweise der BDS weitgehend verzichten wollte.

Nun überrascht der Presserat nur wenige Wochen später erneut mit einem nicht nachvollziehbaren Urteil. Dieses Mal geht es um einen Artikel des Finanzportals «Inside Paradeplatz». In diesem Artikel wurde einerseits ein Dutzend Vorurteile und Klischees über jüdische Menschen zusammengetragen und verbreitet. Der Artikel zeichnete ein einseitiges, oberflächliches und unsympathisches Bild streng religiöser Juden und ihrer Familien. Andererseits beschrieb der Autor liberale jüdische Menschen als kultiviert, gebildet und unverschämt reich. Beide Beschreibungen unterstützen die Vorstellung von Jüdinnen und Juden als etwas Fremdes, Eigenartiges und Spezielles in den Köpfen vieler Menschen, die nur wenig oder gar keinen Kontakt zu Juden haben.

In seinem jüngst publizierten Urteil anerkennt der Presserat zwar, dass der Artikel auf Inside Paradeplatz Klischees und Stereotype reproduziere. Weiter entstehe tatsächlich der Eindruck, dass der Autor einige dieser Stereotype teile, weil er sich nicht davon distanziere. Allerdings, so das Urteil, sähe der Presserat das Diskriminierungsverbot nur dann als verletzt an, wenn die verbreiteten abwertenden Äusserungen gegen eine Gruppe oder ein Individuum eine gewisse «Mindestintensität» erreiche. Dabei sei in diesem vorliegenden Fall eine für die Verletzung des Kodex «notwendige Mindestintensität» eben «knapp» nicht erreicht worden, auch wenn der Artikel diskriminierende Züge trage. Zu diesem Schluss gelangte der Presserat nicht zuletzt im Bewusstsein, dass die Verteidigung des «Rechts auf freie Meinungsäusserung» gemäss der Präambel der «Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten» zu seinen Hauptaufgaben gehöre.

Betrachtet man nun beide Urteile des Presserats, so kann man überspitzt formuliert folgende Schlussfolgerung ziehen: Jüdische Menschen zu diskriminieren, ist für den Presserat zulässig, da es zur freien Meinungsäusserung gehört. Die BDS-Bewegung, die gemäss allgemeingültiger Lehrmeinungen antisemitische Handlungsmuster aufweisen kann, als antisemitisch gefärbt zu bezeichnen, ist dagegen für den Presserat nicht zulässig, weil das die Wahrheitspflicht verletze. Man muss die Absurdität und die Realitätsferne dieser Sichtweise erst verdauen. Dann muss man sich unweigerlich die Frage stellen, wie ernst es dem Presserat im Umgang mit Antisemitismus ist. Es gibt hier wenig hinzufügen. Eine Klarstellung des Presserats zu seiner Haltung in dieser Frage gegenüber der jüdischen Gemeinschaft wird dringend erwartet. Gerne können wir das gemeinsam diskutieren.

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG

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