Tagebuch eines Likratino – Tag 2
Die Sonne scheint, das Thermometer steigt. Es sind heute Morgen definitiv mehr Leute unterwegs, ob flanierend in den Strassen oder auf dem Weg zu den Bergbahnen. Darunter ist auch eine ansehnliche Zahl jüdischer Gäste. Das ist eine ganz andere Ausgangslage als gestern im Regen. Ich beginne meinen heutigen Likrateinsatz wieder im Tourismusbüro, bevor es am Nachmittag in die Berge geht.
Bei dem schönen Wetter bleibt der grosse Andrang im Touristenbüro aus, da die meisten Gäste schon früh mit einer Gondel auf den Berg sind. Wir tun es ihnen kurze Zeit später gleich und fahren auf die Schatzalp. Ich bin gespannt, was mich dort oben erwartet. Mir sind sowohl die jüdisch-orthodoxen Gäste als auch die anderen «regulären» Einheimischen nicht fremd. Als jüdische Schweizer kennen wir Likratinos und Likratinas einerseits die jüdischen Bräuche und Regeln und andererseits tragen wir auch gleichzeitig die schweizerische Mentalität in uns. Eine eigentlich optimale Voraussetzung für die Vermittlerrolle. Und doch frage ich mich, ob ich die beiden Gruppen erreichen kann. Können Likratinos und Likratinas als Bindeglied zwischen diesen Welten funktionieren?
Auf der Schatzalp
Es ist eine herrliche Aussicht, wenn man oben aus der Bergbahn steigt. Die Berge sehen von hier oben noch eindrücklicher aus als von unten im Dorf. Auf den Wanderwegen sind viele Menschen anzutreffen, immer wieder auch strenger religiöse Juden. Auf den ersten Blick mögen sie durch ihre schwarze Kleidung auffallen. Beim genaueren Hinschauen jedoch, sieht man, dass sie genauso wie die anderen Touristen mit ihren Familien den Berg hinauf und hinunter wandern, über den Ausblick staunen und den sonnigen Tag geniessen. Die jüdischen Gäste, die regelmässig in Davos sind, kennen fast alle das Likratprojekt schon vom letzten Jahr. Die Rückmeldungen sind durchwegs positiv. Wir führen einige Gespräche über ihre Erfahrungen in den Schweizer Alpen und ich kann ihnen einige schweizerischen Eigenheiten näher zu bringen. Es kommen auch andere Touristen mit Fragen auf uns zu, die ihnen offensichtlich unter den Nägeln brennen. Sie wollen wissen, warum sich die jüdisch-orthodoxen Menschen so kleiden oder warum sie bestimmte Dinge tun, die sie eben tun. Bei einem älteren Herrn spüre ich in seinen Fragen auch antisemitische Ressentiments heraus. Wenn ich ihm so zuhöre, wird mir bei bestimmten Fragen sehr unwohl. Ich fange mich aber schnell wieder. Ich mache mir wieder bewusst, dass es meine Arbeit hier vor Ort ist, die Stereotypen abbauen soll und kann. Auch wenn ich nicht das Gefühl habe, den Herrn mit meinen Argumenten wirklich zu erreichen, so lässt er sich doch immerhin auf gewisse Erklärungen ein.
Jüdische Schweizer als Bindeglied
Wir fahren mit der Berggondel wieder ins Dorf runter. Ich glaube, dass ich mehrheitlich beide Welten erreichen konnte. Sowohl die jüdischen Gäste als auch die Einheimischen sahen mich zwar immer wieder als Vertreter der jeweils anderen Gruppe an und weniger als Vermittler dazwischen. Dennoch spürte ich in allen Gesprächen den Vorteil, dass ich als jüdischer Schweizer, beide Welten kenne, verstehe und mich darin bewegen kann. So fällt es mir nicht besonders schwer, auf die so unterschiedlichen Menschen und Gesprächspartner einzugehen und eben doch als Vermittler mehr Verständnis füreinander zu schaffen.