Der SIG wurde 1904 als Interessenvertreter jüdischer Gemeinden gegründet. Unterschiedlichste und wiederkehrende Themen haben ihn geprägt. Der SIG ist seither zu einer gesellschaftlichen und politischen Konstante geworden.
Am 27. November 1904 trafen sich in Baden 27 Vertreter von dreizehn jüdischen Gemeinden aus der ganzen Schweiz zur Gründungsversammlung des SIG. Mit der Verabschiedung der Statuten und der Einsetzung einer Exekutive wurde der «Schweizerische Israelitische Gemeindebund» gegründet. Der Zweck des neu gegründeten Vereins war es, «die allgemeinen Interessen des Judentums in der Schweiz zu wahren und zu vertreten.» Als wichtigste Programmpunkte wurden an der Gründungsversammlung vor allem der Kampf gegen das seit 1893 in der Schweizerischen Bundesverfassung verankerte Schächtverbot und auch die Koordination der Friedhofsfrage genannt.
1930er Jahre – Abwehr antisemitischer Tendenzen
Die ersten Jahre des SIG waren verhältnismässig ruhig. Das änderte sich anfangs der 1930er Jahre. Ein Aufstieg verschiedener antisemitischer Gruppierungen, die sich als «Fronten» bezeichneten, war zu beobachten. Vor allen aber das Eindringen antisemitischer Parolen in Kreise des Mittelstandes sowie die Avancen einiger etablierter Parteien gegenüber den neuen Gruppierungen, verunsicherte die Jüdinnen und Juden der Schweiz zutiefst. Der von den Fronten angestrebten «Degradierung der Juden zu Staatsbürgern zweiter Klasse» wollte der SIG nicht tatenlos zusehen und intensivierte zunächst seine Abwehr gegen den Antisemitismus, indem er Ende 1936 eine eigene Pressestelle, die Jüdischen Nachrichten JUNA, ins Leben rief.
Zweiter Weltkrieg – Zustand der Lähmung, Anspannung und Empörung zugleich
Der Verband zog sich in den Kriegsjahren zusehends aus der Öffentlichkeit zurück. Die Schoah, aber auch die asylpolitische Situation im eigenen Land, erlebte der SIG in einem Zustand der Lähmung, Anspannung und Empörung zugleich. Dabei wirkte der Verband im Hintergrund und versuchte mit seinen Möglichkeiten, jüdische Flüchtlinge zu retten und in der Schweiz unterzubringen. Das Verhältnis zu den sogenannten «Fluchthelfern», wie dem bekannten St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, blieb aber schwierig und distanziert. Das Verhalten der offiziellen Schweiz, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Tragödie der europäischen Jüdinnen und Juden führten Ende 1942 innerhalb des SIG zur Einsicht, dass die bedrückenden Probleme nur durch einen vollständigen Neuanfang gelöst werden konnten. Kurz vor Ende des Krieges 1944 entschied sich der Verband für eine umfassende Neustrukturierung seiner Gremien, die bis heute die grösste strukturelle Veränderung des Verbandes gewesen sein sollte.
Nach dem Krieg – Akzeptanz nach aussen und innere Herausforderungen
In der «Wachsamkeit gegenüber allfälligen Anfeindungen» sowie in der «Mitarbeit an allen kulturellen und sozialen Bestrebungen» bestanden die neuen und alten Aufgaben des SIG nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Wirtschaftsboom der Fünfzigerjahre förderte die Akzeptanz des Verbands nachhaltig. Die politische Anerkennung des SIG ging mit der Etablierung des interreligiösen Dialogs zwischen Juden und Christen einher.
Während sich die Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt normalisierten und der SIG zu neuem Selbstvertrauen fand, erkannte man im Innern verschiedene Schwächen. Die Rede war von einer der jüdischen Tradition gegenüber immer gleichgültigeren Jugend, von der für die Gemeinschaft bedrohlichen Zunahme interreligiöser Ehen sowie von der Überalterung der Gemeinden. Ab der Mitte der 1950er Jahre waren die Gremien des SIG bemüht, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Als eine erste Reaktion intensivierte der SIG die Jugendarbeit und stellte sich mehreren Diskussionen zur Revision der Statuten, die 1981, 1992, 1994, 2008 sowie 2014 in kleinen Schritten vollzogen wurden. Zentrale Diskussionen gestalteten sich um den Zweckparagraphen des SIG sowie um die Frage der Aufnahme der liberalen Gemeinden in den Gemeindebund. Eine entsprechendes Aufnahmegesuch scheiterte 2003 an der geforderten statutarischen Mehrheitsbestimmung, die einen Zuspruch von zwei Dritteln der Delegierten fordert. In der Folge wurde die Plattform der liberalen Juden der Schweiz PLJS als Dachverband der liberalen Gemeinden in der Schweiz gegründet. In den folgenden Jahren entwickelte sich zwischen der PLJS und dem SIG eine enge und abgestimmte Kooperation.
Nachrichtenlose Vermögen und erbenlose Konten
Die wachsenden Spannungen zwischen dem World Jewish Congress WJC und den Schweizer Banken, die immer noch über erhebliche Gelder sogenannter «nachrichtenloser Vermögen» und «erbenlosen Konten» verfügten, wurden Mitte der 1990er Jahre auch für den SIG zur Bewährungsprobe. Es galt zwischen den Schweizer Banken, den Behörden und dem WJC eine vermittelnde Haltung einzunehmen. Die Schweiz sollte sich – auch aus der Sicht des SIG – den «Schatten der Vergangenheit» stellen. Das Land sollte jedoch fair behandelt werden. Aus diesem Grund begrüsste der SIG die Schaffung der «Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg UEK». Mit einer Solidaritätsstiftung und der Publikation des Schlussberichts der UEK im Jahr 2001 war eine erste, intellektuelle Phase dieser Aufarbeitung der Vergangenheit abgeschlossen. Auch der SIG stellte sich einer Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Politik des SIG während des Zweiten Weltkriegs wurde 2005 im Auftrag des SIG durch den Historiker Stefan Mächler in der Publikation «Hilfe und Ohnmacht» aufgearbeitet. Im Jahr 2014 folgte die Aufarbeitung der Beziehung des SIG zu den Fluchthelfern, vor allem zu Paul Grüninger. Der SIG entschuldigte sich schliesslich für die Versäumnisse im Umgang mit Grüninger bei seiner Familie.
Professionalisierung, neue Projekte und das Thema Sicherheit
Insbesondere im letzten Jahrzehnt hat der Verband einen Professionalisierungsschub erlebt. Die Informations- und Medienarbeit wurden ausgebaut und professionalisiert. Vor allem wurden auch die Projekte in der Antisemitismusbekämpfung hinsichtlich Prävention und Aufklärung gestärkt. Das Likrat-Projekt, das 2001 als Begegnungsprojekt an Schulen begann, wurde in den letzten Jahren auf weitere Zielgruppen hin ausgebaut und wird heute als ein Muster- und Leuchtturmprojekt in der Präventionsarbeit in der Schweiz aber auch im Ausland wahrgenommen. Einen besonders starken Fokus musste der Verband mehr und mehr auf die Sicherheit jüdischer Einrichtungen richten. Die Gefahr rechtsextremistischer oder islamistischer Angriffe war schon seit den 1970er Jahren spürbar und zeigte sich in immer weiter zunehmenden Sicherheitsvorkehrungen, welche die jüdischen Gemeinden und Institutionen zu treffen hatten. Die internationale Lage und eine lange Reihe von Anschlägen auf jüdische Einrichtungen weltweit hat diese Gefahrenlage in den letzten zehn Jahren stark ansteigen lassen. Der SIG hat sich in Folge dessen für den Ausbau der innerjüdischen Kooperationen im Sicherheitsbereich und für ein stärkeres Engagement bei Schutzaufgaben des Bundes, der Kantone und Städte eingesetzt. Wichtiges politisches Ziel war auch die finanzielle Entlastung der jüdischen Gemeinschaft, die mittlerweile jährlich mehrere Millionen Franken aufwenden musste, um die eigenen Sicherheitsdispositive aufrechtzuerhalten.
Der SIG ist heute eine gesellschaftliche und politische Konstante
Die Kontakte des SIG mit staatlichen Stellen, kirchlichen und religiösen Institutionen sowie verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Interessensgemeinschaften haben sich im Laufe seiner Geschichte gefestigt. Der Verband wird heute von Partnerorganisationen, den Behörden, der Politik und den Medien als sachlicher und verlässlicher Experte und Ansprechpartner wahrgenommen. Der SIG ist zu einer bekannten und respektierten gesellschaftlichen und politischen Konstante geworden.
(Der Text basiert im Wesentlichen auf Balkanyi (Keller), Zsolt: Geschichte des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, Baden 2009. Dieser wurde inhaltlich überarbeitet und ergänzt.)
Präsidenten des SIG
1904 – 1914 | Hermann Guggenheim |
1915 – 1935 | Jules Dreyfus |
1936 – 1943 | Saly Mayer |
1943 – 1946 | Saly Braunschweig |
1946 – 1973 | Georges Brunschvig |
1973 – 1980 | Jean Nordmann |
1980 – 1988 | Robert Braunschweig |
1988 – 1992 | Michael Kohn |
1992 – 2000 | Rolf Bloch |
2000 – 2008 | Alfred Donath |
2008 – 2020 | Herbert Winter |
Seit 2020 | Ralph Lewin |
Gespräch mit Odette Brunschvig
Ehefrau von Georges Brunschvig sel. (SIG-Präsident 1946-1973)
Quellen
Picard, Jacques 1997: Die Schweiz und die Juden 1933-1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich: Chronos Verlag.
Roschewski, Heinz 1994: Auf dem Weg zu einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein? Geschichte der Juden in der Schweiz 1945-1994, Basel/Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn.
Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund SIG (Hg.) 1954: Festschrift zum 50-jährigen Bestehen (1904-1954), Zürich.
Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund SIG (Hg.) 2004: Jüdische Lebenswelt Schweiz. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG). Zürich: Chronos Verlag.
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